Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Mitternacht, und der König schlief. Schon um zu vermeiden, dass man ihre Familie zur Rechenschaft zog, hatte Leah gar nicht vor, ein für alle Mal zu verschwinden. Sie wollte vor Tagesanbruch zurück sein, ehe Shalaaman aufwachte. Ein gefährliches Unternehmen, aber sie wollte unbedingt ihre Familie wiedersehen. Ihr Anliegen duldete einfach keinen Aufschub!
Und sie musste ein sicheres Versteck für ihre Tafeln finden.
Während ihrer Reise mit König Shalaaman hatte sie ihre reich bemessene Freizeit dazu genutzt, sich, wenn auch mühsam, Davids neue Schrift anzueignen. Und sobald sie den Ritzstift in den Ton zu drücken verstand, hatte sie achtzehn medizinische Heilmethoden und ihre magische Wirkung auf Tontafeln festgehalten und sie, nachdem sie getrocknet waren, ihrem persönlichen Gepäck hinzugefügt.
Jetzt aber sorgte sie sich um deren Sicherheit, da sie in einer Wandnische schlief und jeder, der vorbeikam, Zugriff auf ihre Habe hatte. Im Hause ihres Vaters würden die Tafeln gut aufgehoben sein, weshalb sie sie dorthin mitzunehmen gedachte.
Als sie sich im Dunkeln ankleidete, klopfte ihr Herz wie verrückt vor Aufregung und Vorfreude, sie alle wiederzusehen – Großmutter und Mutter, Esther und die kleinen Jungen. Selbst Saloma hatte ihr gefehlt.
Am meisten aber David … Keine Briefe, keine Antwort auf ihre Briefe an ihn. Hatte er sie überhaupt erhalten? Wo es ihr doch so schrecklich leidtat, was sie damals, als sie den König von seinen Erstickungsanfällen geheilt hatte, im Zorn geäußert hatte. Davids schmerzvoll verzerrtes Gesicht, als sie gesagt hatte, sie werde ihn auf ewig verachten. Wie oft hatte sie sich auf ihrer Reise diese entsetzliche Szene ins Gedächtnis gerufen und sich gewünscht, sie ungeschehen zu machen! Sie hatte David Tag und Nacht in ihrem Herzen bewahrt, für ihn gebetet, von seinen dunklen Augen geträumt, seinen starken Armen, seinem leidenschaftlichen Kuss. Und jetzt war sie wieder in Ugarit.
Bald, mein Liebster, bald …
Mit weichem Stoff umhüllt, legte sie ihre kostbarste Habe in ihre Tasche – alles Dinge, die sie beim Herumziehen von einer fremden Stadt zur anderen begleitet hatten und sie mit ihrem Zuhause und ihren Lieben verbanden: die Tafel mit der Baldrianrezeptur, die David ihr gegeben hatte, das Liebesgedicht, das sie zwischen Tante Rakels Sachen gefunden hatte, das goldene Fruchtbarkeitsamulett, das ihr vor sieben Jahren hatte Glück bringen sollen.
Sie schloss die Augen und sprach ein Dankesgebet. Ihre Sehnsucht nach Ugarit und ihrer Familie war grenzenlos gewesen. Täglich hatte sie an sie gedacht, ihnen so oft wie möglich Nachrichten zukommen lassen und für sie gebetet. Jetzt war sie endlich wieder in der Stadt, in der sie geboren war, und ihr Zuhause lag nur wenige tausend Schritt in südlicher Richtung. Bitte, flehte sie Asherah an, gib dem König ein, mich heimkehren zu lassen – wenigstens für eine Weile.
Sie hatten in Mitanni im Norden und Osten viele große und kleine Städte besucht, waren sogar bis nach Karkemisch, an den nördlichen Nebenflüssen des Euphrats gelegen, gekommen. Mit allen hatte Shalaaman Friedensverträge geschlossen, Allianzen, Pakte und Handelsabkommen, die auf Hunderten von Tontafeln aufgezeichnet worden waren und jetzt zur sicheren Aufbewahrung in das Archiv der Bruderschaft wanderten. Als weiser Herrscher hatte Shalaaman einen sich abzeichnenden Konflikt mit Ägypten vorausgesehen und starke Bündnisse geschaffen. Er hatte sogar eine Prinzessin geheiratet, die ihm zwei Söhne geschenkt hatte – ein noch stärkeres Band zwischen ihm und einem anderen Königreich. Nachdem man erfahren hatte, dass Thutmosis Megiddo erobert hatte, und kaum Zweifel mehr daran bestand, dass er weiter gen Norden ziehen würde, fand Shalaaman, dass er mit seiner Allianz gut vorbereitet war. Für alle Fälle hatte der König jedoch, als sie noch drei Tagesreisen von Ugarit entfernt waren, zusätzlich den Befehl erteilt, die Befestigungsanlagen der Stadt zu verstärken, die Armee in voller Stärke einzuberufen und jeden körperlich einsatzfähigen Mann zur Verteidigung der Stadt zu rekrutieren.
Am kommenden Morgen sollte mit der Arbeit an den Stadtmauern begonnen werden, Vorräte an Nahrungsmitteln, Wasser und Gerätschaften für den Fall einer Belagerung angelegt werden. Furcht breitete sich aus, gepaart mit gespannter Erwartung. Und darin lag der eigentliche Grund, weswegen Leah zu mitternächtlicher Stunde heimlich ihre Familie aufsuchen
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