Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Menschen etwas Besonderes, etwas Wunderbares anzubieten. In jener Nacht, als er gen Osten blickte, hatte er vor einer Entscheidung gestanden. Er hätte ins Haus des Goldes eilen können und wäre dort zum neuen Rab bestimmt worden. Dann hätte er seine Aufgabe darin gesehen, die Brüder auf den alten Weg der Tradition zurückzuführen. Aber weil er sich stattdessen dafür entschieden hatte, Leah zur Seite zu stehen, hatte er eine neue Art des Schreibens erschaffen. So lassen die Götter Wunder geschehen.
Vielleicht nicht die Götter, überlegte er, sondern ein Gott. Es war El, der zu mir sprach … El Shadai, der Allerhöchste.
»Meister! Hast du gehört!« Nobu kam hereingestürmt. »Megiddo ist gefallen! Der König von Kadesch soll über eine Mauer geklettert und den Soldaten von Thutmosis entkommen sein! Jetzt ist er auf der Flucht!«
»Megiddo! Dann befindet sich Ägypten im Krieg mit Kanaan.« David hatte von der vom König von Kadesch angeführten Fürstenkoalition und ihrer geplanten Revolte gegen Ägypten gehört. Ganz Ugarit, David eingeschlossen, hatte fest an ihren Sieg geglaubt, allein schon wegen der Stärke der zusammengezogenen Armeen. Ihre Niederlage konnte nur bedeuten, dass die Armee des Pharaos zahlenmäßig enorm überlegen war. »König Shalaaman muss jetzt nach Ugarit zurückkehren.« Genau das ist es, worauf wir gewartet haben. Auf die Gelegenheit, uns gegen Yehuda zu stellen …
»Meister«, stotterte Nobu käsebleich, »Herrin Avigail hat nach uns geschickt. Es scheint äußerst dringend zu sein.«
»Das ist alles?«, fragte Yehuda den Schriftgelehrten.
»Wort für Wort, Rabbi«, sagte Bruder Yosep in Erwartung einer anerkennenden Geste. Nichts war ihm wichtiger, als sich der Gunst seines Meisters zu versichern. Schon dessen leisestes Lächeln kam einem kostbaren Geschenk gleich.
»Wer sind die anderen Verschwörer?«
»Neben David sind das Bruder Efram und Bruder Eli.«
»Und du bist dir sicher, dass sie in dir nicht einen Informanten vermuten?«
»Das schwöre ich bei den Göttern. Sie halten mich für einen Gleichgesinnten und glauben, dass ich ihrem verräterischen Geschwätz zustimme.«
Yehuda nahm diese Bemerkung mit beifälligem Nicken zur Kenntnis. »Gut gemacht, Bruder.«
»Was soll ich als Nächstes tun, Rabbi?«
»Triff dich weiterhin mit ihnen. Lass keinesfalls verlauten, dass du mir Bericht erstattest. Dann ist dir eine Belohnung sicher, Bruder Yosep.«
Kaum hatte sich sein Informant verdrückt, beschloss Yehuda, dass es an der Zeit war zu handeln. David wird mir zu selbstsicher, befand er, als er sich seinen Umhang griff und hinauseilte. Er schließt zu viele Freundschaften. Yehuda wusste inzwischen von zwölf Brüdern, die David in seinem Bestreben, die Bruderschaft zu reformieren, unterstützten. Sie wollten als Gruppe dem König eine Eingabe vorlegen, und Yehuda war sich nicht sicher, ob sein Einfluss ausreichte, das zu verhindern.
Und viel schlimmer noch, David wollte Shalaaman unbedingt seine neue Art des Schreibens vorführen. Bei den anderen Schriftgelehrten hatte er mit seinen Überlegungen, dass eine Schrift, die nur dreißig Zeichen umfasste, jeden, ob Schafhirte oder der König selbst, in die Lage versetzen würde, lesen und schreiben zu können, nicht viel Erfolg gehabt. Wenn jedoch Shalaaman, der für alles Neue und Außergewöhnliche zu begeistern war, Interesse bekundete, stand zu befürchten, dass die Macht der Schriftgelehrten schwinden würde und man womöglich bald keine berufsmäßigen Schreiber mehr brauchte.
Es galt also unbedingt zu verhindern, dass der König Kenntnis von Davids neuester Torheit erhielt.
Ein kalter Wind blies vom Meer her. Yehuda wickelte sich fest in seinen ledernen Umhang und tauchte in die Nacht ein. Weit brauchte er nicht zu gehen. Er stemmte sich gegen den Wind und folgte dem Weg hinunter zum Hafen, wo Boote und Schiffe auf dem aufgewühlten Wasser dümpelten, Laternen hin und her schwankten und Fackeln sprühten. Durch den Regen spähte er nach einem Schild über einer Tür, das anzeigte, welche die Taverne »Zu den Segnungen der Götter« war.
Obwohl David unbedingt aus dem Weg geräumt werden musste, war selbst Yehuda nicht skrupellos genug, deswegen einen Mord zu begehen. Was er stattdessen vorhatte, lehnte sich an eine der wirksamsten militärischen Strategien von Thutmosis an: die Entführung wichtiger Personen, beispielsweise die von Söhnen von Monarchen. Wie es hieß, waren Häschertrupps des Pharaos
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