Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Königs Shalaaman nur schwer die Verfolgung aufnehmen konnten, allein schon deswegen, weil sich nach Passieren des Gebirges im Süden mehrere Routen öffneten und man nicht sicher wusste, welche die Entführer eingeschlagen hatten.
»Wo bringen sie uns hin?«, fragte eine der Kinderfrauen. Dunkle Ringe zeichneten sich inzwischen um ihre Augen ab, sie hatte Gewicht verloren, rührte auch jetzt ihren Haferbrei nicht an. »Das wissen wir erst, wenn wir da sind«, meinte eine der anderen, die einen der kleinen Prinzen aus ihrer eigenen Schale fütterte. »Töten werden sie uns jedenfalls nicht. Sie brauchen uns für die Versorgung der Prinzen. Wenn sie sterben, hat der Pharao keine Geiseln, um sie gegen unseren König einzusetzen. Die Götter sind mit uns.«
Die Erste senkte den Kopf. »Ägypter fressen kleine Kinder«, murmelte sie. »Das weiß doch jeder.«
Leah tätschelte dem Mädchen die Hand. »Iris hat recht. Die Ägypter werden euch anständig behandeln. Bete zu Asherah und hab keine Angst.«
Trotz ihrer beruhigenden Worte fühlte sich Leah alles andere als optimistisch. Obwohl sie den Wachen erklärt hatte, dass ein Fehler vorliegen müsse, ahnte sie, warum sie entführt worden war: Sie war für den König unverzichtbar, und wenn der Pharao sie als Geisel behielt, konnte Ägypten ohne große Gegenwehr Ugarit einnehmen.
Ständig lauerte sie auf eine Gelegenheit zur Flucht. Dreimal hatte sie bereits einen Versuch unternommen, war aber jedes Mal umgehend wieder eingefangen und zurückgebracht worden. Sie musste es weiter versuchen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie nach Ugarit zurückkam. Blieb sie Gefangene des Pharaos Thutmosis, dann stand zu befürchten, dass sie ihre Familie oder David niemals wiedersehen würde. Durch Erfahrung klug geworden, wurde sie besonders streng bewacht; wenn die Wachen die Frauen in Abständen aus dem Wagen ließen, damit sie sich erleichtern konnten, banden sie Leah ein Seil um den Knöchel und befestigten es am Wagen.
Wann würden sie an ihrem Ziel ankommen? Leah hob die Lederklappe vor dem kleinen Fenster des Planwagens und sah, dass sie nicht länger Wald und Hügel umgaben, sondern sich eine offene Ebene vor ihnen ausbreitete. Und dann merkte sie, dass der Wagen seine Fahrt verlangsamte, vernahm jetzt, da er zum Halten kam und hinten die Klappe aufgerissen wurde, Stimmen und ein Wirrwarr anderer Geräusche.
Beim Aussteigen bot sich Leah und den Kinderfrauen ein atemberaubender Anblick.
So weit das Auge reichte, dehnte sich auf dem Plateau zwischen zwei Bergen ein riesiges, lärmendes Lager aus, mit Zelten, Männern und Tieren. Es wimmelte von Soldaten. Alles war von derart viel Rauch umwirbelt, dass die Mittagssonne kaum durchdrang. Die Entführten selbst befanden sich auf ihrem Wagen inmitten von Koppeln mit Hunderten von Pferden; unweit davon sah man unzählige Kamele und hinter ihnen reihenweise einsatzbereite Streitwagen. Ägyptische Soldaten, Wagenlenker und Pferdeknechte gingen mit einem derartigen Geschrei ihren Aufgaben nach, dass Leah sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Es stimmte also, was gemunkelt wurde: Das ägyptische Heer war größer als alles, was es je an Streitmacht gegeben hatte.
Die Kinderfrauen mit den beiden kleinen Prinzen wurden weggebracht, dann trat ein Soldat, dessen Brustschutz und Helm aus Bronze ihn als Offizier auswies, zu Leah, sagte etwas auf Ägyptisch und schlug sodann einen Pfad zwischen Zelten und Lagerfeuern ein. Offenbar sollte sie ihm folgen.
Verwundert schaute sie sich um. Auf dem Plateau unweit der Stadt Megiddo sah sie das Meer von Zelten und Hütten, gezimmerten oder behelfsmäßigen Unterkünften, jeweils mit einem Lagerfeuer davor, dessen Rauch zum Himmel stieg. Durch die vernebelte Luft klangen Gelächter und Rufe, Schreien und Weinen, Musik, Wiehern und Muhen, das Klirren von Metall bei den Waffenschmieden. Sie sah Männer, die Bogen und Pfeile herstellten, Metzger, die Tiere ausnahmen, Frauen, die Wasserkrüge auf dem Kopf balancierten. Eine richtige kleine Stadt, befand Leah. Auf Büschen und Felsbrocken war Wäsche zum Trocknen ausgebreitet. Der Duft der Zubereitung von Tausenden Mahlzeiten lag in der Luft. Sie sah Männer aufmarschieren, Reiter, die mit ihren Pferden Kampfmanöver übten, Streitwagen, die repariert wurden. Eine Soldatenstadt, berichtigte sie sich. Und dann machte sie in der Ferne, auf der anderen Seite eines kleinen Flusses, ein weiteres, noch größeres Lager aus, das sich bis zu
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