Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sich. Hatschepsut hält mein Schicksal in den Händen.
»Die Arme des Jungen müssen fixiert werden. Dreht ihn auf die gegenüberliegende Seite von der, durch die der Dämon eingedrungen ist.«
Sie trat ans Bett und hielt die Kerze, die intensiv nach Bienenwachs roch, dem Jungen in Höhe seines Ohrs ans Gesicht. Der Junge stöhnte und wimmerte und schrie – bis er sich unvermittelt beruhigte, sein Stöhnen verebbte und er tief durchatmete. »Der Dämon ist fort«, flüsterte er.
Leah wich vom Bett zurück, um eine Erfahrung reicher geworden. Sie hatte nämlich als Einzige in dem Raum etwas wahrgenommen, was sie nicht einmal bemerkt hatte, als man damals dem Mann am Euphrat den Dämon der Finsternis ausgetrieben hatte: Als sie dem Jungen die Kerze ans Ohr gehalten hatte, war da ein Insekt herausgeflogen, eine kleine schwarze Fliege, die ihm ins Ohr geflogen, sich dort verfangen und mit ihrem verzweifelten Summen dem armen Jungen zugesetzt haben musste. Erst das Licht der Kerze hatte ihr den Weg in die Freiheit gewiesen. Und jetzt schwirrte sie in der Luft herum.
Allerdings merkte das niemand, denn alle redeten jetzt auf einmal, eilten ans Bett des Jungen, lobten die Götter, dankten ihnen für diese wundersame Heilung.
Ich werde darum bitten, nach Hause zu dürfen, nahm sich Leah in Erwartung der Belohnung vor.
Sie kehrten in den äußeren Raum zurück, während sich die Königin liebevoll um den Jungen kümmerte. Als sie wieder durch den Leinenvorhang zu ihnen trat, sagte sie: »Tatsächlich, Leah von Kanaan, du verstehst zu betören. Woher hast du diese Befähigung?«
Noch ehe Leah antworten konnte, hob Hatschepsut die Hand. »Du schweigst besser. Mir dies zu verraten könnte deine Befähigung zunichtemachen. Was von den Göttern kommt, ist allein ihre Sache, auch wenn ich die Tochter des Amon-Re bin, des größten aller Götter. Wir möchten dich wie auch deine wohlwollenden Geister für dein heilendes Wirken heute belohnen. Was wünschst du dir?«
»Mein Wunsch ist es, nach Ugarit zurückzukehren, Herrlichkeit. So bald wie möglich. Mit meinem Gefährten, David von Lagasch.«
Pharao Thutmosis, der offenbar nichts für das Kind der Liebe seiner Tante übrighatte und mit seinen Generälen in eine halblaute Diskussion über die große Landkarte auf dem Fußboden verstrickt war, mischte sich ein: »Ich habe mit dem Mädchen etwas anderes vor. Sie soll als Warnung für König Shalaaman herhalten.«
Hatschepsut sah ihren Neffen an. Die Blicke des Paares, einstmals Frau-König und Mitregent, jetzt aber Pharao und Königin, kreuzten sich. Es wurde still. So aufrecht und majestätisch Pharao Thutmosis auch dastand, erschien er doch ungelenk im Kontrast zu Hatschepsut. Wie ein Magnet schien sie alle Aufmerksamkeit, alle Energie auf sich zu ziehen. Sie war die Sonne, ging es David durch den Kopf. Alle Strahlen der Macht und des Lebens entfalteten sich aus dieser schmalen Gestalt, dem dunklen, fast hypnotisch intensiven Blick. Die Zeit schien langsamer zu werden, keiner wagte sich unter diesem Blick zu rühren.
Dann wandte sich Hatschepsut von ihrem Neffen ab. Ein Aufseufzen ging durch das Zelt, die Spannung war gebrochen. Die Königin hob die Hand und sagte zu Leah: »Mein Arzt berichtete mir von Tontafeln, die in einer Schrift abgefasst sind, die meinen Schriftgelehrten unbekannt ist und die du für ihn übersetzt hast. Ist das richtig?«
Verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel – die Königin hatte noch gar nicht auf ihre Bitte reagiert, nach Hause zu dürfen –, stotterte Leah: »Es handelt sich dabei um eine Schrift, die Prinz David von Lagasch entwickelt hat, Herrlichkeit.« Gleichzeitig warf sie David einen Blick zu und merkte, dass er nicht minder überrascht war.
Hatschepsut wandte sich an David. »Du hast von Schätzen in eurem Archiv gesprochen. Von uralten Beschwörungsritualen und Formeln und Büchern. In welcher Sprache sind sie niedergeschrieben?«
»Majestät?«
»Wie sind sie geschrieben? In dem unverständlichen und umständlichen kanaanäischen Gekritzel?«
»Ich glaube, ja … und in anderen, alten Schriften.«
»Auch in deinem eigenen geheimen Code?«
»Noch nicht, Majestät, aber ich hoffe, eines Tages die kostbaren Schriften in eine einfachere übertragen zu können, ähnlich wie sich die weitaus überlegene ägyptische Schrift aus schwierigen Hieroglyphen zu der praktischen hieratischen Schrift entwickelt hat, deren ihr euch heute bedient.«
»Das stimmt. Die ägyptische
Weitere Kostenlose Bücher