Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
die andere nicht sehen.«
Keine Antwort. Nach einer Weile wandte sich Hatschepsut zum Gehen, nicht ohne vorher zwei Wachen ein Zeichen zu geben, die daraufhin Leah beim Aufstehen halfen und mit ihr der Monarchin folgten. Auch David schloss sich an, ohne zurückgehalten zu werden.
Hinter dem Thronzimmer befand sich ein kleinerer Raum, dessen Wände ebenfalls aus schwerer blauer Leinwand bestanden. Auch hier war die Luft vom Duft süßen Weihrauchs durchzogen. Zunächst konnte Leah nichts erkennen, da es im Raum stockdunkel war, nach und nach jedoch stellten sich ihre Augen darauf ein, und sie erkannte die geisterhaften Umrisse von Hatschepsuts weißem Gewand, Männer, die wie Ärzte gekleidet waren, und schließlich ein Bett. Warum brannte kein Licht?, wunderte sie sich und ging langsam auf das Bett zu.
Dort lag jemand und stöhnte vor Schmerzen.
Ein klein wenig Tageslicht drang durch Ritzen im Zelt und von unten, wo die Leinwandbahnen am Boden vertäut waren, genug für Leah, um zu erkennen, dass auf dem Bett ein junger Mann lag. Bekleidet war er lediglich mit einem weißen Lendenschurz, und sein Schädel war bis auf eine lange schwarze Lockensträhne über der rechten Schläfe geschoren. Ein hübscher Jüngling, wie sie fand. War er etwa der jugendliche Liebhaber der Königin?
Nein, berichtigte sie sich, als sie sah, wie sich Hatschepsut über die Gestalt beugte, wie weich ihr Profil wurde und wie besorgt. Kein Liebhaber, sondern ein
Sohn.
Und ihr fiel ein, dass man einstmals gemunkelt hatte, Ägyptens unverheiratete Königin habe ein Kind der Liebe geboren.
»Was fehlt dem Jungen?«, fragte sie, und Reshef antwortete: »Ein Dämon hat von seinem Kopf Besitz ergriffen. Er dröhnt dort ohrenbetäubend herum und verursacht dem Prinzen große Schmerzen.«
»Wie ist der Dämon in seinen Kopf gelangt?«, fragte Leah und trat noch näher an das Bett.
»Durch sein Ohr«, sagte Reshef. »Zeitweise schläft er, und das verschafft dem Jungen dann etwas Erleichterung. Sobald er aber wieder erwacht, ist das Dröhnen noch unerträglicher als die Schmerzen.«
»Herrlichkeit«, wandte sich Leah an die Königin, »in Haran habe ich miterlebt, wie ein ebensolcher Dämon ausgetrieben wurde. Ich könnte das Gleiche versuchen. Dazu brauche ich aber Licht. Eine Kerze oder eine Lampe.«
»Majestät, Licht würde den Dämon nur tiefer in den Schädel des Jungen treiben«, gab Reshef zu bedenken. »Und dann könnte er überhaupt nicht mehr ausfahren. Deswegen muss es um den Prinzen herum dunkel sein.«
Leah ließ nicht locker. »Ich bin zwar medizinisch nicht so versiert wie deine eigenen Ärzte, Herrlichkeit, aber in Ugarit werden wir von mehr Krankheiten bedroht als die Menschen im Land des Kem. Mir ist zum Beispiel bekannt, dass der Dämon, der die Luftröhre einengt, Ägypter nicht heimsucht, weil es in deinem Land trocken und warm und sonnig ist. Im Norden von Ugarit, an der Küste des Großen Meers, ist es zeitweise kalt und feucht, weshalb sich Dämonen auf der Suche nach Wärme in menschlichen Körpern einnisten, ihnen den Atem rauben, bis sie schließlich daran sterben.«
»Aber Dämonen ziehen die Dunkelheit vor«, entgegnete Reshef. »Jeder weiß doch, dass böse Geister dort geboren werden, wo es kalt und dunkel ist.«
»Das glauben wir ebenfalls, aber darüber hinaus glauben wir, dass Dämonen vom Licht angezogen werden. Dann verlassen sie ihre kalte und dunkle Welt und suchen Hitze und Sonne.« Als sie merkte, dass sie ihn noch nicht überzeugt hatte, fügte sie hinzu: »Ich habe von den Ärzten in Kanaan viel gelernt, schon weil es dort mehr böse Geister gibt als in Ägypten.«
Reshef neigte zustimmend seinen gut geschnittenen Kopf. »Das stimmt.«
»Ich glaube, ich kann den Dämon aus dem Schädel dieses jungen Mannes locken.«
Der Oberste Arzt sowie die Pfleger wandten sich der Königin zu. Hatschepsut nickte.
Während eine Kerze geholt wurde, raunte David Leah zu: »Ich habe Angst, was für ein Risiko du eingehst. Wenn du scheiterst, droht dir Gefahr. Aber wenn du Erfolg hast, wird Hatschepsut dich hierbehalten. Denk an Shalaaman.«
»Der Junge leidet, und ihn zu heilen dürfte nicht schwer sein. Außerdem droht mir im Moment sowieso der Tod, mein Kopf als Botschaft an König Shalaaman. Vielleicht kann ich mein Leben retten, vielleicht reagiert Ihre Majestät anders und lässt uns heimkehren.«
Als die brennende Kerze gebracht wurde, sah Leah Davids besorgten Gesichtsausdruck. Er hat recht, sagte sie
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