Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
schuld.« Unvermittelt drängte es sie, diesem gutaussehenden Fremden ihren Kummer anzuvertrauen. Und dann, beschämt über sich selbst, sagte sie rasch: »Vergib mir. Dein Diener ist hungrig. Wie nachlässig von uns!«
»So schnell wird Nobu schon nicht verhungern«, meinte David mit einem Schmunzeln.
Er rückte seinen Umhang zurecht. Leuchtend rot funkelte es an seiner Hand auf. Weil er merkte, dass Leah darauf aufmerksam geworden war, streckte er den Arm aus, so dass sie den Ring betrachten konnte. Als sie sich vorbeugte, um ihn genauer zu betrachten, und dabei leicht seine Hand berührte, zuckte er zusammen.
In den Siegelring mit dem Karneol waren zwei menschliche Wesen graviert, die sich mit wie zum Gruß erhobenen Händen gegenüberstanden. An ihren Rücken spreizten sich mächtige Schwingen. Ob diese Wesen männlich oder weiblich waren, konnte Leah nicht ausmachen. Aber sie erkannte sie dennoch, denn in Ugarits Pantheon waren sie ebenfalls präsent: Engel, Boten der Götter. Bei dem Stein musste es sich um das königliche Siegel Ugarits handeln, mit dem David Dokumente, Briefe, Empfangsbestätigungen gegenzeichnete.
Ihre leichte Berührung, ganz kurz nur und doch wirkungsvoll wie ein Blitzschlag, hatte ihn schier aus dem Gleichgewicht gebracht. Unerwartet. Erregend. Er sah auf sie, die sich über den Ring neigte, herab. Ihr glänzendes Haar verströmte einen süßen Duft. So dicht stand sie vor ihm, dass er ihr leises Atmen hören konnte. Die Welt verstummte. Ein Schmetterling, dessen blau und golden leuchtende Flügel wie Edelsteine funkelten, umflatterte erst seinen, dann Leahs Kopf, wie um beide mit einem unsichtbaren Faden zu verbinden, ehe er wieder das Weite suchte. Leah trat einen Schritt zurück. »Ein wirklich schöner Ring«, sagte sie.
Wie hübsch sie ist, durchfuhr es David, und was für eine warme Stimme sie hat. Grübchen, wenn sie lächelt. Wie anmutig sie sich eine Haarsträhne von der Wange streicht. Der fette, schmierige Jotham dagegen … allein die Vorstellung, dass so ein Kerl mit gierigen Händen dieses Mädchen betatschte! David dachte an das liebevolle Gespräch zwischen Vater und Tochter, das er mit angehört hatte. Diese unverhohlene Zuneigung. Seine eigene Mutter sprach seinen Vater ebenfalls mit »Mein Gebieter« an. Steif, förmlich, kalt, obwohl sie ihm zwölf Kinder geboren hatte. In ihrem Schlafgemach musste es ebenso steif und förmlich und pflichtbewusst zugegangen sein wie im Thronsaal beim Empfang von Gesandten.
Er schaute auf das verdorrte Erdreich in diesem vergessenen Garten und dann auf das gepflegte grüne Beet. »Und an allem bin ich schuld«, hatte sie gesagt. Er hätte gern Näheres erfahren, wollte aber nicht in sie dringen, sondern sagte nur: »Wie ich sehe, bist du dabei, einen Garten anzulegen.« Er war auf seiner Wanderung durch das Haus an mehreren Gärten vorbeigekommen und wusste, dass sich jenseits dieser hohen Mauer, dort, wo die Küchen und Tiergehege lagen, größere befanden. Wozu also diente dieses vernachlässigte Stück Erde?
»Es ist für meine alte Tante. Ihr Gedächtnis lässt nach, und ich glaube, wenn ich dies hier zu einem Garten umgestalte, wie sie ihn in jungen Jahren besaß, wird sich das wieder bessern.«
David hatte noch nie etwas angepflanzt. Er, der sein Leben in den stillen Sälen voller Bücher und Studierender verbracht hatte, wusste nicht einmal genau, wie man dabei vorging. Mit der Bedeutung von Symbolen und Linien und Zeichnungen aufs Beste vertraut, kam ihm der Anblick eines sprießenden Blättchens wie ein Wunder vor. Es muss eine Begabung sein, folgerte er, Erdreich zum Leben erwecken zu können.
»Wenn wir unser Haus behalten können«, ergänzte sie leise. »Du hast Jotham ja heute kennengelernt und weißt um unsere Schwierigkeiten mit ihm. Das ist alles meine Schuld. Durch mein ungehöriges Verhalten vor einem Jahr, als Jotham und seine Schwester uns besuchten, ist Unheil über meine Familie gekommen. Deshalb liegt es an mir, dies wiedergutzumachen. Nur wie? Mein Vater lässt mich nicht zu Jotham gehen, ich muss darauf warten, dass Großmutter einen Ehemann für mich auftreibt. Wie kann ich da seelenruhig zusehen, wie sie alle meinetwegen in den Ruin getrieben werden!«
»Alles wird sich zum Guten wenden.« Auf welche Weise hatte sie sich ihrer Meinung nach ungehörig verhalten? Sie kam David keineswegs eigensinnig oder aufsässig vor. »Rechtliche und finanzielle Angelegenheiten sind mir vertraut. Immerhin sind
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