Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Tante Rakel in Ruhe.«
Da Leah somit die Hände gebunden waren, musste sie sich auf andere Weise diese kostbaren Informationen verschaffen. »Entschuldige mich kurz, Tante Rakel«, sagte sie und stand von der Marmorbank auf. »Ich bin gleich zurück.«
Als das Gartentor hinter ihr zufiel, blieb sie stehen und umfasste das Medaillon der Göttin, das sie an einem Lederband um den Hals trug, und schloss die Augen. »Vergib mir, Asherah, wenn ich dich jetzt enttäusche«, murmelte sie, »aber unsere missliche Situation zwingt mich, dem Gedächtnis meiner Tante auf die Sprünge zu helfen.«
Sie wartete noch kurz, ehe sie wieder den Garten betrat. »Tante Rakel?«
»Ja, Liebes?«
»Ein Bote aus Molochs Tempel ist gekommen. Er sagt, die Priester benötigen Molochs Traum. Können wir welchen entbehren?«
Rakel runzelte die Stirn. »Molochs Traum?« Sie warf einen Blick auf die junge Pflanze in der Ecke. »Er ist noch nicht voll entwickelt. Erst im Frühling, wenn die harzigen Knospen milchig weiß werden und die feinen Härchen bereits eine goldgelbe bis rosa Farbe angenommen haben, ist es an der Zeit, Molochs Traum zu ernten. Und selbst dann müssen wir behutsam vorgehen und die Blätter trocknen. Die Priester verbrennen sie in einer Schale, und wenn sie dann den Rauch einatmen, überkommen sie Visionen, und sie halten Zwiesprache mit den Göttern.«
Leah lächelte. »Danke, Tante Rakel. Ich werde dem Boten Bescheid sagen.«
Als Hannah mit der Konkubine nach Hause kam, fand sie Elias in seinem Betrieb, wo er die Lagerung der Amphoren überwachte, die er vom Hafen hatte zurückbringen lassen müssen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Hannah. Es mangelt an Platz, um sie zu lagern. In die Sonne dürfen sie nicht, weil sonst der gesamte Jahrgang verdirbt.«
»Dann schaff sie ins Haus«, schlug Hannah vor. »Wir haben genügend Räume, die nicht benutzt werden. Dort ist es kühl, kein Sonnenstrahl dringt hinein. Du kannst sie als Lager benutzen, bis du das Problem mit Yagil gelöst oder einen anderen Schiffseigner gefunden hast. Und jetzt möchte ich dir jemanden vorstellen. Komm mit.«
Sie gingen in die Empfangshalle, wo das Mädchen vom Sklavenmarkt völlig verschüchtert zurückgeblieben war. »Ihr Name ist Saloma«, stellte Hannah sie vor. »Sie übernimmt meinen Platz, bis sie dir einen Sohn gebiert.«
»Hannah …«
Sie hob die Hand. »Elias, du darfst mir glauben, dass mir das schwerfällt. Mach es also nicht noch schlimmer. Ich weiß, wozu ich der Familie verpflichtet bin. Weil ich bislang versagt habe, kam es mir zu, für Abhilfe zu sorgen. Saloma erhält eine Kammer am Ende der Halle, neben unserer. Sie wird in unsere Familie eingegliedert. Wir werden sie respektvoll behandeln. Und die Götter bitten, uns einen Sohn zu schenken.«
Nachdem sie Saloma dem Verwalter übergeben und ihn entsprechend unterwiesen hatte, suchte sie Tamars Zimmer auf.
Wehmut überkam sie. Kein eigener Sohn. Und von drei Töchtern nur eine, die ihr keinerlei Kummer bereitete. Wie unberechenbar das Leben doch ist, befand sie, als sie sich auf das nicht bezogene Bett setzte. Als ich mich mit meinem Elias hier niederließ, schwebte mir ein Haus voller lebhafter und gesunder Kinder vor. Jetzt besteht die Familie nur noch aus einem Mann und fünf Frauen.
Sie warf einen Blick auf die nackten Wände, auf die Haken, an denen keine Kleider mehr hingen, auf die leere Truhe, auf die verwaisten Nischen, in denen einmal Götterstatuen und Lampen gestanden hatten. Wie war es möglich, dass drei Kinder derselben Mutter so verschieden sein konnten? Leah in sich gekehrt. Esther so entstellt, dass sie nur selten das Haus verließ, aber ihrem Wesen nach ein Sonnenschein. Tamar wiederum – seit sie laufen und sprechen konnte, war alles, was sie tat, irgendwie berechnend. Woher diese Habgier stammte, konnte sich Hanna nicht erklären. Hatte sie selbst im Verlauf ihrer Schwangerschaft etwa einen Anflug von Gier verspürt und dies unwissentlich auf ihr ungeborenes Kind übertragen? Es hieß ja, dass alles, was eine werdende Mutter erlebt, Auswirkungen auf das Kind hat. Man brauchte sich ja nur Esther anzuschauen. Hannah gab sich die Schuld für Esthers verunstaltete Lippe – sie war damals auf dem Markt mit einem Mann zusammengeprallt, der ebenfalls eine gespaltene Lippe gehabt hatte.
Als sie mit Leah schwanger gewesen war, hatte Hannah das Haus nicht verlassen, hatte sich mit Näharbeiten beschäftigt, nachmittagelang in der Sonne gedöst.
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