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Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Titel: Im Auge der Sonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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bediente, die »mein Meister« bedeutete. »Ich suche seit langer Zeit schon um Audienz bei dir nach. Ich überbringe dir Grüße von meinem Meister in Lagasch und den Segen Shubats.« Davids Herz klopfte zum Zerspringen. Seine Handflächen waren feucht. Was sagte man zu dem, den man verehrte?
    »Wenn dich die Dunkelheit stört, mein Sohn, und du es heller haben möchtest – dort sind Wachskerzen und ein Feuerstein. Da ich blind bin, wäre Licht für mich nur Verschwendung.«
    »Die Dunkelheit stört mich nicht, Rabbi, meine Augen gewöhnen sich daran.« War etwa die Blindheit des Rabs die Ursache für den Verfall der Bruderschaft? Möglich, dass die Brüder ihn als alt und krank ansahen. Ein angeschlagener Anführer büßt den Respekt seiner Anhänger ein. Wenn die Brüder ihn nicht länger respektierten, verloren sie auch den Respekt vor sich selbst und ihrem Beruf. Zitternd vor Wut angesichts einer derartigen Ungeheuerlichkeit hätte David am liebsten aufgeschrien, hätte die Brüder an den Ohren gepackt und sie hierhergeschleppt, auf dass sie sich ihrem erhabenen Führer zu Füßen warfen. Wie konnten sie ihrem Rab derart schamlos den Respekt versagen? Ihren ehrenwerten Beruf und ihre Götter entehren?
    »Du bist ein Schriftgelehrter, mein Sohn?«
    Alle Scheu war von David abgefallen. Wie war es um die Ehre in dieser Bruderschaft
bestellt?, tobte es in ihm. Warum ließ man diesen erhabenen Führer allein im Finstern sitzen?
Während sich die Brüder an Musik und Frauen, Fleisch und Wein ergötzen?
Mit gepresster Stimme sagte er: »Ja, Rabbi, das bin ich. Ich bin im Verzeichnis der Schriftgelehrten hier in Ugarit eingetragen. Meine Ausbildung habe ich in Lagasch erhalten, wo mein Vater König ist.«
    Der Rab nickte. Beifällig, wie David in dem alten Gesicht wahrzunehmen meinte. »Du kommst mit einem Anliegen zu mir?«
    David berichtete von der Tafel, die seiner Vermutung nach eine Fälschung war. »Bringe sie zu einem deiner Brüder«, meinte der Rab. »Er kann sie mit Aufzeichnungen im Archiv vergleichen.«
    David zögerte. Sollte er dem Rab berichten, was außerhalb dieses abgeschiedenen Raumes vor sich ging? Er wollte nicht als Verräter angesehen werden, der seine eigenen Brüder anschwärzte, entschied aber dann doch, dass die Integrität der Bruderschaft wichtiger war als das, was der Rab von ihm halten mochte. Und deshalb berichtete er dem alten Mann von den Bestechungen, der mangelnden Disziplin, dem Verlust von Moral und ethischen Werten, dem Chaos in der Bibliothek. Mit tränennassem Gesicht würgte er alles an Verabscheuungswürdigem heraus.
    Als er fertig war, versank der Rab in dumpfes Brüten. »Dass meine Blindheit ein Problem werden könnte, hatte ich befürchtet. Jetzt habe ich die Bestätigung dafür. Früher hatte ich sehr gute Augen und konnte den Anforderungen meines Amts entsprechen. Blind bin ich erst seit kurzer Zeit, aber der Verlust meines Augenlichts wirkt sich jetzt eindeutig zum Nachteil auf diese Bruderschaft aus.« Der Rab legte eine Pause ein. »Es entgeht mir nicht, dass du erzürnt bist, David von Lagasch. Du bist weit gereist, um dich uns anzuschließen, und jetzt musst du feststellen, dass die Bruderschaft nicht dem entspricht, was du dir erwartet hast.«
    »Ich bin enttäuscht, Ehrwürdiger Rabbi.«
    »Würdest du etwas verändern, wenn du Rab wärst?«
    Auch wenn die Frage ihn überrumpelte, antwortete David spontan: »Das würde ich, Rabbi, bei dem Eid, den ich Shubat geschworen habe.«
    »Dann sollst du wissen, dass ich nicht immer blind war. Mein Augenlicht erlosch langsam, nach und nach. So war es auch bei meinem Vorgänger und dessen Vorgänger. Das ist der Preis, den wir für unser hohes Amt bezahlen. Jedes Mal, wenn wir uns eine Tafel ansehen, einen Brief lesen, einen Vertrag aufsetzen, eine Bestandsaufnahme machen – jedes Mal, wenn wir ein Wort aufschreiben oder einen Satz lesen, büßen wir ein wenig von unserem Augenlicht ein. Keiner weiß, warum das so ist. Das Augenlicht ist ein kostbares Gut. Wie Blut. Wenn du jeden Tag eine Ader anritzt und ein wenig Blut heraustropfen lässt, hast du eines Tages kein Blut mehr. Das Gleiche trifft auf das Sehvermögen eines Schreibers zu. Bist du bereit, dein Augenlicht hinzugeben für die Ehre, deinem Beruf zu dienen?«
    Früher hätte David spontan mit Ja geantwortet. Jetzt dachte er an Leah. Wie gern er sie ansah, wenn sie es nicht merkte. Diese einzelne Locke, die geringelter war als ihr übriges Haar und einfach nicht

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