Im Auge des Feuers
Ruhe und Entspannung geworden.
Eira nutzte die Gelegenheit, den Bericht von 1969 noch einmal durchzulesen – besonders den Teil mit der Vernehmung von Per Andersen.
Die Befragung hatte nicht lange gedauert. Zwei erfahrene Ermittler hatten ihn in Anwesenheit seiner Mutter vernommen. Man war zu dem Schluss gekommen, dass Per nichts gesehen hatte, was für den Fall von Bedeutung gewesen wäre. Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass die Polizei den Zeugen für nicht sonderlich intelligent hielt und sich daher auch von einer eingehenderen Befragung keine zusätzlichen Informationen erwartete. Aus der Abschrift ging hervor, dass Per größtenteils einsilbig geantwortet hatte, wenn überhaupt. Meist hatte er sich auf Kopfschütteln und Nicken beschränkt und eine Vorliebe für starke Gesichtsgrimassen gezeigt, was die Ermittler wohl für ein Zeichen geistiger Schwäche gehalten hatten.
Ja, ja, dachte Eira und klappte die Akte zu. Im Jahr 1969 schienen die Psychologiekurse für Kriminalbeamte noch erbärmlicher gewesen zu sein als heute.
Pers Biographie war schlicht. Nach der zehnten Klasse hatte er immer wieder mal einen kleinen Job angenommen. Alle Beschäftigungsverhältnisse waren jedoch nur von kurzer Dauer gewesen. Das Problem war, dass Per bereits früh zum Alkohol gegriffen hatte. Sein gesamtes Leben lang hatte er zu Hause bei seiner Mutter gewohnt, die unverheiratet geblieben war.
Darüber hinaus war nicht viel zu finden. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Per Andersen als einfältig angesehen wurde.Dafür gab es keine tiefer gehende Begründung, als dass er Grimassen schnitt, wenn er in Stress geriet, und es ihm die Sprache verschlug, wenn er antworten sollte.
Eira überlegte, wie Pers besonderes Interesse an Feuer einzuordnen sei. Vermutlich hatte sich der Brand von 1969 als Trauma niedergeschlagen, das Per Tag und Nacht verfolgt hatte. Sverre Wikan hatte zwar behauptet, dass Per auch vor dem großen Stadtbrand von Feuer und Bränden besessen gewesen war, aber dafür gab es keinen weiteren Beleg. Magni hatte sich furchtbar aufgeregt, als Eira ihr gegenüber angedeutet hatte, ihr Sohn könne ein Pyromane gewesen sein. Nun war Magni tot. Wer konnte jetzt noch weitere Informationen über Per liefern?
Eira dachte lange nach, den Kopf gegen die Nackenstütze gelehnt, die Füße auf dem Tisch. Schließlich wanderten seine Gedanken wieder zu Jens Eide. Das Milieu der Obdachlosen war in dieser Stadt nicht besonders groß. Jens und Per hatten sich vermutlich gekannt. Wie weit reichte ihre gemeinsame Geschichte zurück? Vielleicht konnte Jens ein lebendigeres Bild von Per zeichnen als dieser Polizeibericht.
Eiras Atem ging schneller. Er musste mehr über Jens Eide herausfinden. Der Mann war in den Archiven registriert, weil er ein paar Mal wegen übermäßiger Trunkenheit in der Öffentlichkeit festgenommen worden war. Eira machte große Augen, als er den Lebenslauf des Mannes aus der Akte fischte. Jens hatte an der Universität von Trondheim ein Ingenieursdiplom erworben. Seine Noten waren hervorragend. Aber bereits während des Studiums hatte Jens immer wieder gern zur Flasche gegriffen und nach seinem Abschluss war er dann endgültig zum Alkoholiker geworden. Er hatte versucht, einen Job zu finden, und anfangs reichlich Stellen zur Auswahl gehabt, nur konnte er nirgends Fuß fassen. Schnell war es mit ihm bergab gegangen.
Eira legte den Kopf wieder zurück und dachte darüber nach,wie wenig man über die Zukunft wusste. Er hatte sich mittlerweile offenbar angewöhnt, alle möglichen gescheiterten Lebensläufe mit seinem Privatleben in Verbindung zu bringen. Immer war da die Angst um seinen Sohn. Eira musste sich eingestehen, dass er Niillas’ Zukunft nicht beeinflussen konnte. Er fühlte sich, als blicke er weit hinunter in einen bodenlosen Abgrund. Er spürte den Sog, fühlte, dass er über den Rand gezogen wurde, und fiel, fiel.
Schließlich ging er hinaus auf den Korridor und holte sich einen Kaffee aus dem Automaten. Dann saß er wieder in seinem Büro. Die Tasse in den Händen war das einzig wirklich Greifbare – und doch erschreckend zerbrechlich. Er blieb bis nach Mitternacht.
Kapitel 55
Es war halb eins. Die weißen Stiefeletten standen noch in der Diele, als Eira zu Hause die Tür aufschloss. Sie blieb also über Nacht. Er dachte an den kommenden Tag, an Niillas, der in die Schule musste. Der Alltag von Vater und Sohn würde fürchterlich in Unordnung geraten, wenn Niillas nicht genug
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