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Im Auge des Feuers

Im Auge des Feuers

Titel: Im Auge des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorun Thoerring
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Beweggründe zu verstehen. Es gab für Karl auch keinen Grund, Johan zu erzählen, dass er hier draußen jemanden treffen wollte. Auch nicht, dass es sich um eine Frau handelte.
    Die Hütte der Familie lag ein paar Kilometer hinter Hella. Karl parkte zwischen den Bäumen, ging zur Tür und blieb dort lange stehen. Das Häuschen war kleiner, als er es in Erinnerung hatte. Aus unbearbeiteten Stämmen, mit kleinen Fensterscheiben. Nach seiner Zeit war eine Veranda angebaut worden. Von dort hatte man eine fabelhafte Aussicht auf den Straumen, der an den Felsen weiter unten starke Strudel bildete. Als Punkt in der Ferne sahKarl ein Schiff, das sich auf dem Weg in den Sund befand. Vermutlich eines der Hurtigruten-Flotte. Er fixierte es angestrengt und hatte dennoch Mühe, es deutlich zu erkennen. Die Dämmerung war hereingebrochen und raubte ihm nun Stück für Stück den prächtigen Ausblick.
    Karl lief ein paar hundert Meter durch niedriges, sumpfiges Gebüsch hinunter zu den Uferfelsen. Unter seinen Füßen knisterte getrockneter Tang. Er blieb stehen und hob ein Stück Treibholz auf. Dann starrte er auf das Wasser hinaus und wurde sich der vollkommenen Einsamkeit bewusst. Nur die Möwe, der immer anwesende Aasvogel, kreiste hoch über ihm.
    Jetzt war Flut. Die Strömung peitschte gegen die Felsen. Hier konnte man nie baden. Er erinnerte sich daran, wie die Erwachsenen von frühester Kindheit an davor gewarnt hatten. An die Schreckensgeschichten, was passierte, wenn man ins Wasser fiel. Kein Mensch war imstande, zurück an Land zu schwimmen, wenn er einmal in den Sog hineingeriet.
    Sehr undeutlich nahm Karl in der aufziehenden Dunkelheit die Rückenflossen einer Gruppe von Schweinswalen und einen vorbeiziehenden Seelachsschwarm wahr. Für einen Moment bedauerte er, dass er die Angel aus der Hütte nicht mitgenommen hatte. Dann sah er zu dem Gebäude hinauf und entschied, dass es zu spät war, um noch einmal zurückzugehen.
    Plötzlich erblickte er eine Gestalt. Irgendjemand ging im Halbdunkel den Weg entlang. Ein Stück über ihm, wo das große Bootshaus die Sicht auf den Pfad verdeckte, verschwand der Betreffende aus seinem Blickfeld.
    Karl kehrte um und ging wieder zur Hütte hinauf. Nur Johan konnte wissen, dass Karl hierhergefahren war. Karl legte die Hände vor den Mund und rief: »Johan!«
    Niemand antwortete. Karl wollte noch einmal rufen, als er weit entfernt auf den Felsen einen Angler sah, vermutlich den Besitzereiner Hütte in der Nähe. Das ließ ihn schweigen. Er wollte kein Aufsehen erregen. Hier glaubte man ja schließlich, er wäre tot.
    Hinter dem Bootshaus war niemand zu sehen. Vielleicht war es Einbildung gewesen. Oder die Person hatte eine andere Richtung eingeschlagen. Sie konnte genauso gut in den Wald hinein verschwunden oder am Strand weitergelaufen sein.
    Karl ließ das Ganze auf sich beruhen und ging zurück. Spürte, wie der Hunger nagte. Die Kanne mit Kaffee und der Proviant standen auf dem Küchentisch. Nancy, Johans Haushälterin, hatte am Morgen alles für Karl hergerichtet. Sie hatte auch die Schneehuhnpastete zubereitet, die er noch aus seiner Jugend kannte, und mehrere Scheiben von dem groben Brot dazugelegt, das sie immer selbst backte – ihre Spezialität und Karls Lieblingsessen.
    Nancy war schon seit Jahrzehnten im Haus. Sie wurde langsam alt, aber Johan hatte es gut, solange sie da war.
    Als Karl etwas später auf der höchsten Erhebung stand, war der Himmel blauschwarz. Im Norden konnte er die Lichter des Stadtgebiets sehen. Den scharfen Wind spürte er kaum, als er in die Stille hineinhorchte.
    Das war Heimat. Vielleicht verlief so das Altern. Wurzeln gruben sich, je älter sie wurden, zur Oberfläche empor, wurden sichtbar, spürbar. Er konnte sie nicht länger übersehen.
    Weil Karl keine Taschenlampe mitgenommen hatte, musste er sich zur Hütte zurücktasten.
    Ein Holzofen, zwei Holzstühle und eine schmale Bank. Das war die schlichte Ausstattung der Küche.
    Ein leises Geräusch von draußen drang in Karls Gedanken. Er sah rasch aus dem Fenster. Im Dunkeln konnte er lediglich Bäume erkennen, die sich in dem frischen Wind wiegten. Als er sich wieder umdrehte, stand sie in der Türöffnung.

Kapitel 16
    Sie räusperte sich. »Der Pferdeschwanz steht dir nicht.«
    Sie war tatsächlich noch so, wie er sie all die Jahre in Erinnerung gehabt hatte. Die Augen durchdringend blau, beobachtend, als ruhten sie auf interessanten Details seines Gesichts. Aber die Kälte in ihnen war ihm

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