Im Auge des Feuers
normalerweise die Seele. Ein Ausgleich dafür, zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter so hoch im Norden zu leben. Heute hielt die Bergwelt allerdings kein erholsames Erlebnis für sie bereit.
Der Anrufer, ein Mann in den Siebzigern, war zu erschüttert gewesen, um mit ihnen noch einmal hinaufzugehen. Er blieb mit einem der Fahrer im Auto sitzen. »Folgen Sie einfach den Möwen und Krähen«, hatte er gemurmelt. »Die haben sich schon über der Leiche zusammengerottet.«
Die Vogelschreie wurden immer penetranter, je weiter sie das Tal hinaufmarschierten. Eira erinnerte sich an die Worte des älteren Herrn. Ein Stück von Eira entfernt kreiste eine große Krähe über den Baumwipfeln, ein Aasvogel. Möglicherweise war es einer von denen, die die Leiche gewittert hatten. Die Krähe ließ sich auf einer Baumkrone nieder. Sie näherten sich, und der Vogel erhob sich widerwillig von seinem Ast. Er schrie noch einmal schrill, bevor er in einigen Metern Höhe weitere Kreise zog.
Eira beobachtete, wie sich die Krähe kurz auf einen anderen Wipfel setzte und dann erneut hochflog. Plötzlich waren zwei andere Vögel hinzugekommen, die ebenfalls über derselben Stelle schwirrten.
»Ich glaube, wir sind da. Ungefähr dreißig Meter vom Weg entfernt.« Eira ging mit langen Schritten die Böschung hinauf auf die Vögel zu.
Alle drei flatterten mit durchdringendem Geschrei vom Dickicht auf. Eira erreichte die Stelle und vergaß die Vögel, als er den Blick auf die Erde senkte.
»Hier wären wir«, sagte er tonlos über die Schulter.
Der Tote trug altmodische Knickerbocker und lange, gestrickte Kniestrümpfe mit Norwegermuster. Bei den Schuhen handelte es sich um unmoderne Wanderschuhe, dasselbe galt für den Anorak, ein beiges Exemplar mit einem Gummizug in der Taille. Trotzdem war die Kleidung bei Weitem nicht das Auffälligste.
Berger umklammerte seinen Arm mit eisernem Griff. Eira hatte das Gefühl, als hinge sie mit ihrem gesamten Körpergewicht daran.
»Er … ja, denn es ist ja wohl ein ›Er‹ …?« Sie nahm die Hand vom Mund und zeigte mit zitterndem Finger. »Der Hals …« Sie schwieg und schluckte.
Der Person fehlte der Kopf.
Eira löste Bergers Hand von seinem Arm und trat einen Schritt näher an den Torso heran. »Jetzt weiß ich, was der Wanderer mit ›wahrscheinlich‹ gemeint hat. Aber der Kopf ist sicher auch hier irgendwo.«
Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, runzelte Eira die Stirn. Es war enttäuschend, auf Anhieb nur so wenig zu entdecken. Er richtete den Blick wieder auf die Leiche, wünschte, er hätte den versierten Pathologen Vennestad hier. Es sah aus, als sei der Kopf sehr exakt abgetrennt worden, keine Unebenheiten, nichts, was auf eine Säge hingewiesen hätte. Eher einige wohlgezielte Hiebe mit einer großen Axt. Und noch etwas anderes Merkwürdiges fiel Eira auf: Es fehlte nicht nur der Kopf, sondern auch Blut. Die Fundstelle war in keiner Weise besudelt.
Eira verharrte an einer Stelle, seine Augen scannten den Fundort und die unmittelbare Umgebung. Er kartierte den Ort präzise. Abgesehen von der Brutalität, mit der der Mann geköpft worden war, wollte Eira das Ganze einfach nicht einleuchten. Bei all seiner Erfahrung mit übel zugerichteten Mordopfern – irgendetwas befremdete Eira an der Art und Weise, wie die Leiche dalag. Der Mann, denn es war ein Mann, wirkte eigenartig zurechtgelegt, regelrecht drapiert, als habe jemand die Gliedmaßen arrangiert und geordnet, damit es ordentlich aussehen würde. Eine Art Aufbahrung.
Er hob den Blick und sah zum Himmel hinauf. Der Wind blies frisch und Eira fürchtete, es könnte bald anfangen zu regnen. Oder zu schneien.
Längst hatte die Spurensicherung ihre Arbeit aufgenommen. Eira war nicht von der Leiche gewichen, sodass die Vögel in gebührendem Abstand blieben. Nun sollten bald die ersten Untersuchungsergebnisse eingehen. Man durchkämmte bereits die unmittelbare Umgebung, aber den Kopf fand man nicht.
Eira trat widerwillig beiseite, als die Pathologin eintraf, eine junge, magere Frau, für seine Begriffe ein kleines Mädchen.
»Sie haben wohl heute Dienst?«, murmelte er, und es war eher eine missmutige Feststellung als eine Frage.
Sie würdigte ihn keiner Antwort. »Haben Sie etwas angefasst?«
Jetzt war es an ihm, nicht zu antworten. Wie unprofessionell, nach solchen Selbstverständlichkeiten zu fragen.
Sie sah ihn mit müden Augen an. Eine leichte Röte breitete sich über ihrem Gesicht aus. Das konnte ebenso gut vom
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