Im Auge des Feuers
gehörte. Duodji . »Bastelei« hatte es der Junge vor einigen Tagen verächtlich genannt. Für Eira war es Handwerk im besten Sinne, Handwerkskunst mit jahrhundertealter samischer Tradition. Hier lagen seine Wurzeln . Diese Tätigkeit am Wohnzimmertisch war Eira immens wichtig.
Und Niillas, der auch ein Teil von ihm war.
Sein Handwerk würde er niemals aufgeben, wie vehement Niillas das auch einfordern mochte. Es kam darauf an, geduldig zu sein, durchzuhalten. Genauso ausdauernd wie beim Schnitzen, wenn er mit der gleichen Bewegung unzählige Male kratzte, um Muster in so etwas Widerstandsfähiges wie Knochen zu ritzen.
Eira war möglicherweise zwischendurch missmutig, aber er gab niemals auf. Auch diesmal nicht. Er würde sogar aus dieser Situation einen Weg finden.
Zwei Stunden waren vergangen. Er hatte auf demselben Fleck gesessen und mit seinem Werkzeug unermüdlich den Knochen eingeritzt. Als ob die Antwort, die er suchte, tief in der Struktur dieses Knochens verborgen läge.
Die Musik war zu Ende, im Haus war kein Laut zu hören. Es war erst neun Uhr abends. Eine unerklärliche Unruhe kribbelteunter Eiras Haut. Zu viele unbeantwortete Fragen und unentwirrbare Ängste schwirrten in seinem Kopf herum. Er musste sich bewegen, musste raus. Hier fiel ihm die Decke auf den Kopf.
In der Diele blieb er stehen, hob die Hand und klopfte dreimal an Niillas’ Tür. »Ich geh noch mal zur Arbeit.« Es blieb still, und er fühlte sich wie ein kompletter Idiot, als die Tür hinter ihm zufiel.
Im Büro war es noch stiller. Er setzte sich bei gedämpfter Beleuchtung an seinen Schreibtisch und holte die Papiere heraus, die seit mehreren Tagen ganz oben in der Schublade lagen. Vernehmung von Per Andersen . 20.05.1969.
Eiras Blick glitt noch einmal über die Seiten. In ihm zog sich alles zusammen. Per Andersen war kein einfacher Interviewpartner gewesen. Seine Antworten bestanden zum größten Teil aus Einsilbern, wenn er überhaupt antwortete. Das Ganze war angereichert mit dem unermüdlichen Soufflieren seiner Mutter Magni. Etwa nach der Hälfte der Zeit wurden die Fragen deutlich einfacher gestellt. Die Ermittler waren sichtlich ungeduldig geworden. Sie hielten Per offensichtlich für geistig beschränkt.
Was hatte Per Andersen gequält? Was hatte ihm derart die Sprache verschlagen? Die Vernehmungssituation an sich? Die dominante Mutter? Oder hatte er etwas gewusst, was er um nichts in der Welt preisgeben wollte? Und wenn dem so gewesen war, vor wem hatte er sich dermaßen gefürchtet?
Eira ging das Protokoll noch einmal durch. Ohnehin waren Pers Antworten äußerst spärlich gewesen. Aber in einem Abschnitt der Befragung war Per sogar vollständig stumm geblieben. Im Protokoll waren folglich lediglich die Fragen verzeichnet: »Hast du irgendwelche Personen in der Nähe des Gebäudes erkannt, während du dort standest? Hast du jemanden außer Sverre ins Gebäude gehen sehen? Hat irgendwer es wieder verlassen?« Die Fragen wurden umformuliert und auf immer einfachere Art gestellt, aber Per hatte eisern geschwiegen.
Eira starrte aus dem Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die wie riesige Motten um die Straßenlaternen wirbelten. Müdigkeit senkte sich auf ihn herab und er war versucht, sich vornüber auf den Tisch zu legen und bis zum nächsten Morgen zu schlafen.
Er widerstand der Verlockung. Der Gedanke an die junge Frau bei Niillas brachte ihn wieder auf die Beine, und mit langen, schweren Schritten ging er hinaus und die Steigung zur Nordre Tollbugate hinauf. Unnötig geräuschvoll schippte Eira den Schnee vor der Tür beiseite, trat sich die Schuhe gründlicher ab als sonst, wenn er durch meterhohe Schneeverwehungen gewandert war, und hängte schließlich seine Jacke in der Diele auf.
Selbst nachdem er mit ebenso lautem Geklapper den Geschirrspüler ausgeräumt hatte, blieb es still. Eira gab auf und ging ins Bett.
Kapitel 28
23. Oktober 2007
Eira war ungewöhnlich schlecht gelaunt, als er am nächsten Morgen die Kaffeemaschine anstellte und den Braunkäse auf das selbst gebackene Brot hobelte. In der Gefriertruhe war nur noch ein Laib Brot. Gekauftes Brot war ihm noch nie ins Haus gekommen. Er musste also heute backen. Das fühlte sich plötzlich an, als müsste er die Unterlagen für die Steuererklärung ausfüllen.
Er füllte den Kaffeebecher bis zum Rand und sank auf einen Küchenstuhl. Seine Stimmung war wahrlich an einem Tiefpunkt angelangt. Er ertappte sich dabei, Sehnsucht zu verspüren.
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