Im Auge des Feuers
Sehnsucht nach einer Frau. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wünschte er sich, Niillas’ Mutter würde in der Nähe leben und nicht mit einem Schafzüchter in Neuseeland. Eira und sie hatten nur eine kurze Beziehung gehabt und nie zusammengelebt. Von Anfang an hatte Eira allein das Sorgerecht für den Jungen.
Eiras eigene Mutter war gestorben, als er sechs Jahre alt gewesen war. Er hatte Mühe, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Noch schwieriger war es für ihn, ihr Wesen zu beschreiben. Er hatte sie einfach zu früh verloren. Nun sehnte er sich nach jemandem, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. Ein seltener Wunsch. Er und Niillas waren ein gutes Team, hatte er immer geglaubt.
Eira verlagerte seinen Gedankenstrom mühsam in Richtung Job. Vennestad würde um Punkt neun beginnen. Eira wollte pünktlich sein. Jetzt war es Viertel nach sieben, und er hatte noch keinen Laut aus dem Zimmer des Jungen gehört. Normalerweise kam Niillas um diese Zeit aus der Dusche getorkelt. In weniger als einer Stunde fing die Schule an.
Eira wurde auf einmal klar, dass er gar nicht wusste, ob Niillas überhaupt zu Hause war. In drei Schritten war er an seiner Tür und klopfte kurz. Niemand antwortete. Er öffnete die Tür und wäre beinahe auf einen an der Schwelle liegenden lila Stringtanga von der Größe eines Gummibandes getreten.
Er hielt inne. Sie lagen ineinander verschlungen in einem Durcheinander aus Decken und Laken. Ihr nacktes Bein, das sie um Niillas’ Hüfte gehakt hatte, leuchtete weiß im Dunkeln. Er lag wie ein Kind an ihren Brüsten. Beide schliefen fest.
Eira fühlte sich wie gelähmt. Widerstreitende Impulse kämpften in ihm. Einerseits wäre er am liebsten augenblicklich ins Zimmer gestürmt, um beide am Kragen zu packen, das Mädchen geradewegs vor die Tür zu setzen und Niillas unter die Dusche zu bugsieren.
Eine andere innere Stimme riet ihm, leise den Rückzug anzutreten, wie ein Hund zurück in die Küche zu schleichen und so zu tun, als hätte er keine Ahnung, dass sie überhaupt da waren.
Eira klickte sich durch das virtuelle Telefonbuch seines Handys. Er konnte sich nicht entsinnen, bewusst nach dem Gerät gegriffen zu haben, aber seine Finger flogen mit fixem Ziel über die Tasten. Sie stand noch drin – Mona Lie – und er stellte fest, dass er seit Mai, als die Umstände und die Arbeit sie zusammengeführt hatten, keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hatte. Mona war Psychiaterin und Angestellte im städtischen Krankenhaus. Sie war vor gut einem Jahr in die Stadt gezogen und wohnte allein in einem Reihenhaus im Süden der Insel. In Eiras Erinnerung war sie klein und allzu dünn. Er musste aber einräumen, dass sie genügend Substanz gehabt hatte, nächtelang seine Träume zu füllen. Und diese waren alles andere als Albträume gewesen. Sie hatte seine Konzentration immerhin so sehr beeinträchtigt, dass er eine lange Wanderung im Gebirge gebraucht hatte, um von ihr loszukommen. Sein Daumendrückte automatisch auf den Knopf und kurz darauf meldete sie sich.
»Mona.«
»Eh …«
»Ja? Hallo … Aslak?«
Ihre Stimme musste die ganze Zeit irgendwo in seinem Hinterkopf gespeichert gewesen sein. Sie wirkte augenblicklich, hatte einen beruhigenden Effekt und löste im Nu einiges der angesammelten Anspannung. Spontan wäre ihm keine Person eingefallen, die sich deutlicher von ihm unterschieden hätte, und vielleicht war es gerade deshalb so einfach, mit ihr klarzukommen.
»Ja, ich bin’s. Der Kaffee ist gerade heiß. Kommst du vorbei?« Sie hatte ihn einmal darauf hingewiesen, dass er selten plauderte und meist ohne Umschweife zur Sache kam. Anfangs war es ihr schwergefallen, damit umzugehen. Offensichtlich hatte sie sich mittlerweile daran gewöhnt. Er glaubte sogar, dass sie sich gerne mit ihm unterhielt.
»Bekomme ich eine Scheibe Brot zum Kaffee? Ich hab noch nicht gefrühstückt.«
Sie lernte in der Tat schnell. Machte kein Aufhebens davon, dass er fast ein halbes Jahr nichts von sich hatte hören lassen. Dass er ihr keinerlei Erklärungen dafür lieferte. »Geht in Ordnung.« In diesem Moment hätte Mona viel von ihm verlangen können. Er war zu fast allem bereit, nur um sie zum Kommen zu bewegen.
Während er wartete, stellte er Schüsseln, Becher und Aufstrich auf den Tisch. Wenn sie sich nicht grundlegend verändert hatte, würde sie nur Erdbeermarmelade haben wollen. Wohltuend unkompliziert. Eira blieb mit dem Rücken zur Küche stehen und betrachtete die neuen Mosaikbilder, die
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