Im Auge des Feuers
Gunhild Wikans Rücken die dunkle Allee hinunter verschwand. Als Gunhild außer Sicht war, öffnete sie das Sideboard und nahm ein großes Tulpenglas heraus. Mit tauben Fingern füllte sie es bis zur Hälfte mit Cognac und trank gierig.
Gunhilds Fragen waren mehr als unangenehm gewesen. Sie hatten Rita den Boden unter den Füßen weggezogen und den letzten Rest von Selbstbeherrschung zunichtegemacht. Die dünne Glasur, die ihre Angst in Schach gehalten hatte, war dahin. Sie hatte ein halbes Leben gebraucht, um die Erinnerungen zu verdrängen. Musste jahrzehntelang Schlaftabletten nehmen, um nur irgendwie zur Ruhe zu kommen. Rita hatte verzweifelt versucht, das Bild des verkohlten Menschen loszuwerden. Erbärmliche Überreste, von denen es geheißen hatte, dies sei Karl, ihr eigener Bruder, gewesen.
Die Brille und der Ring, als ob sie das jemals vergessen hätte. In jener Nacht war alles schiefgegangen.
Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie zusammenzuckte, als die Esszimmertür geöffnet wurde und Johan hereinkam.
»Ich finde, du hast dich gut verteidigt.« Er hatte die Haustür abgeschlossen und Pantoffeln angezogen, trat lautlos zur Hausbar. »Kurz und bündig, sehr überzeugend.«
Rita kniff ein Auge zu und sah ihn an. Jetzt hatte sie wieder diesen verhärmten Gesichtsausdruck. »Ich muss nur an dieser Erklärung festhalten«, sagte sie spitz. »Meine Version ist glasklar. Ich habe in der letzten Zeit keine Geister getroffen. Karl ist 1969 gestorben. Dass jetzt ein wildfremder Mann auftaucht, der behauptet, er sei Karl, werde ich keinesfalls ohne Weiteres für bare Münze nehmen. Auch wenn die Polizei darauf besteht, dass Karls Identität bewiesen wäre.«
»Ganz deiner Meinung.« Johan nippte am Cognac. »Wenn nur Nancy nicht beobachtet hätte, dass Karl tatsächlich kürzlich hier aufgetaucht ist. Ihr ist vollkommen klar, dass er es war, es wird uns nicht gelingen, ihr etwas anderes einzureden.«
Rita runzelte nachdenklich die Stirn. »Sie ist aber furchtbar leicht zu lenken und lässt sich alles Mögliche vormachen. Man könnte behaupten, dass sie phantasiert hat, dass sie langsam, aber sicher dement wird.«
»Was sollen wir tun?«
»Was können wir tun, meinst du wohl.«
Zwischen ihnen entstand ein aufgeladenes Schweigen.
»Die offizielle Wahrheit ist folgende, Rita: Keiner von uns weiß genau, was damals, 1969, geschehen ist.« Johan schwenkte den Cognac im Glas und folgte versonnen den Kreisbewegungen. »Wir waren nicht dabei. Wir haben deshalb keine Ahnung, ob die Theorien um sein Verschwinden korrekt sind.« Er trank aus und stellte das Glas weg. »Spielt ja an und für sich auch keine Rolle mehr. Da kursieren nur Vermutungen. Feuer beseitigt Spuren mit fabelhafter Effektivität.«
Johan richtete die schmalen Augen auf Rita, griff dann nach einem Brieföffner und säuberte sich damit die Nägel. »Aber sag mal, so unter uns, ist damals wirklich alles verschwunden?«
Ihre Mundwinkel zogen sich noch weiter nach unten. »Das Haus ist vollständig abgebrannt«, sagte sie steif. »Was soll die Frage überhaupt?«
Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Schultern. »Du warst ja im Prinzip mehr im Büro als zu Hause. Ich habe mich bloß gefragt, ob du vielleicht wichtige Dokumente an dich genommen hast. Ob du eventuell Beweise für einige deiner eigentlich ziemlich abwegigen Theorien gesammelt hattest.«
»Wovon sprichst du genau, Johan?« Die Spannung zwischen ihnen war plötzlich mit Händen zu greifen.
»Nun, du hast ja Verschwörungstheorien aufgestellt, die eines paranoiden Diktators würdig gewesen wären. Soweit ich mich erinnere, warst du der Meinung, dass Gunhild sowohl auf Karl als auch auf die Firma AS Fjeld scharf war.«
»Ich hatte Beweise. Diese Frau war extrem geldgierig, wollte gesellschaftlich aufsteigen und einfach um jeden Preis etwas Besseres sein.«
Der Cognac verfehlte nicht seine Wirkung. Johan betrachtete sie mit verschleiertem Blick und schien sich zu amüsieren. »Du warst eifersüchtig auf Gunhild.«
»Mir war klar, was für ein Weibsbild sie war!«, platzte es aus Rita heraus. »Im Gegensatz zu dir kenne ich mich nämlich ein bisschen mit Frauen aus.«
»Vater hat dir jedenfalls nicht geglaubt.«
»Er hat mir nie zugehört. Gunhild hat sich an Karl herangemacht. Zuerst hat sie ihn verführt, später dann bedroht und erpresst. Sie wollte verraten, dass er Geld unterschlagen hatte, die Beziehung öffentlich machen, einen Skandal auslösen. Gunhild hing an
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