Im Auge des Feuers
kleine, von AndreasFjeld signierte Einnahmequelle? War das der Grund dafür, dass sie reihenweise Einkaufstüten exklusiver Damenboutiquen zur Schau trug?
Rita wurde sich gewahr, wie viel Gunhilds Erscheinung in ihr auslöste. Sie stellte fest, dass bestimmte Gefühle einem anderen Menschen gegenüber jahrzehntelang unverändert bleiben konnten. Wie sie in einem Dämmerzustand vor sich hin schwelten, um dann mit unvermuteter Kraft an die Oberfläche zu drängen, stärker als jemals zuvor.
Rita hatte noch nie einen Menschen so sehr verabscheut wie diese Frau.
Nachdem Gunhild Wikan sich den Hang bei Macks Brauerei heraufgekämpft hatte und in der Pension verschwunden war, stieg Rita aus und schloss das Auto ab. Sie betrat den engen Eingangsbereich und nickte der jungen Dame am Empfang freundlich zu.
»Ich suche nach einer alten Freundin, die hier wohnen soll. Ihr Name ist Gunhild Wikan.«
Die Angestellte war nicht viel älter als achtzehn. Sie strich sich das lange, blonde Haar hinter das Ohr und sah hinunter ins Buch. »Ja, sie wohnt bei uns.«
»Oh, tatsächlich!« Rita hoffte, dass der Ausruf echt klingen würde. »Können Sie mir sagen, wann sie angekommen ist?«
Ein erneuter Blick ins Buch. »Vor dreieinhalb Wochen. Am zweiten Oktober«, präzisierte sie.
Rita überschlug schnell im Kopf. Das war vor Karls Auftauchen, vor dem Brand im Einkaufscenter gewesen. Was um alles in der Welt machte Gunhild in der Stadt? »Sie wissen nicht, wie lange sie hier bleibt?«
Nun begann das Mädchen zu ahnen, dass sie ausgefragt wurde. Sie fixierte Rita mit halb zusammengekniffenen Augenlidern. »Sie ist auf ihrem Zimmer. Sie können sie ja einfach selbst fragen.«
»Natürlich«, lachte Rita leichthin. »Es ist nur so, dass wir mit ein paar Leuten eine Überraschungsparty für sie planen. Wir fragen uns, wann sozusagen der letztmögliche Termin dafür wäre.«
»Ja, wenn das so ist.« Das Lächeln des Mädchens ließ große, gleichmäßige Zähne sichtbar werden. »Sie hat nichts Definitives gesagt, glaube ich. Zu dieser Zeit des Jahres ist es hier ja auch nie voll«, beeilte sie sich hinzuzufügen.
Rita war die Gästezahl der Pension vollkommen egal. »Spricht sie immer noch ihre Muttersprache?«
Das Mädchen sah sie irritiert an. »Muttersprache?«
Rita wedelte leicht mit der Hand. »Ich dachte nur, dass sie einen spanischen Akzent bekommen haben könnte. Sie hat so lange dort gelebt, wissen Sie.«
»Sie redet überhaupt nicht von Spanien.« Der Ton war wieder reservierter. Sie hatte sicher die Anweisung erhalten, nicht mit Außenstehenden über Gäste zu sprechen.
Rita wagte nicht, weitere Fragen zu stellen. »Wären Sie vielleicht so nett, nicht zu erwähnen, dass ich hier gewesen bin? Ich hoffe, wir können die Party auf die Beine stellen.«
Die junge Frau nickte zuvorkommend und Rita verabschiedete sich. In der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Ist die Rezeption Tag und Nacht besetzt?«
»Nur bis elf Uhr abends. Danach kommen die Gäste mit ihrer Schlüsselkarte herein.«
Rita erwiderte mit ihrem freundlichsten Lächeln: »Danke, meine Liebe. Und: Vergessen Sie einfach, dass ich hier war.«
»Klar doch.«
Als es auf zehn Uhr zuging, hatte Rita bereits zwei Stunden gewartet und vom Sitzen im Auto Rückenschmerzen. Sie hatte die zwei mitgebrachten Frikadellenbrote gegessen und eine Thermosflasche Kaffee geleert. Rita spürte, dass langsam, aber sicher eineBlitztour in eines der nächstgelegenen Cafés unumgänglich geworden war. Sie musste dringend zur Toilette.
Das Café war gut besucht, lauter Jugendliche in nietenbesetztem schwarzem Leder. Rita hatte Aufsehen erregt – ungefähr so viel, als erschiene Madonna plötzlich auf dem Nordlichtfestival von Tromsø. Das üppig schwarz geschminkte Mädchen hinter dem Tresen hatte ein Piercing in der Zunge und einen Silberring an der Lippe. Sie brauchte in Ritas Augen unverhältnismäßig lange, um zu artikulieren, dass die Toilette only für Gäste sei. Rita zeigte auf ein zufällig ausgewähltes Gebäckteilchen in der gläsernen Theke. So würde sie sich den Toilettengang nun erkaufen.
Als Rita endlich wieder im Auto saß, fragte sie sich, ob Gunhild womöglich ausgerechnet während ihrer stressigen fünf Café-Minuten aus dem Haus gegangen sein könnte. Wenn sie überhaupt ausgehen wollte. Rita war kurz davor aufzugeben, dann hielt sie unvermittelt die Luft an.
Gunhild Wikan trat aus der Pension. Dieses Mal hatte sie vernünftigere Schuhe an, aber sie
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