Im Auge des Feuers
Anzeichen von Besuch. Dennoch hatte sie ja mit eigenen Augen gesehen, wie Gunhild Wikan auf das Haus zu- und anschließend wieder weggegangen war.
Als Rita zurück in der Diele war, blieb sie stehen. »War die Haustür den ganzen Tag abgeschlossen?«
»Natürlich.«
Sie nickte kurz. »Dann geh ich jetzt.«
»Rita, was soll das alles …«
Ohne zu antworten, stapfte sie zu ihrem Auto.
Kapitel 40
Johan gelang es nicht, seine Unruhe abzuschütteln. Gunhilds Besuch, der seinen Streit mit Rita so jäh unterbrochen hatte, hatte beiden Geschwistern beinahe die Luft zum Atmen geraubt.
Seitdem konnte Johan nicht mehr still sitzen. Ohne Ziel und Zweck war er im Haus herumgelaufen. Es würde Tage dauern, bis er den Schock, sie zu sehen, auch nur annähernd überwunden hätte. Zwar hatte er sich beinahe schon daran gewöhnt, dass unvermutet Menschen auftauchten, die er Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte. Aber die Tirade, die Gunhild in den paar Minuten auf sie losgelassen hatte, war nicht leicht zu verdauen.
Gunhild hatte den Eindruck erweckt, sie besäße kompromittierende Informationen. Insbesondere gefährliche für Rita. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Wie ärgerlich, dass er wichtige Dinge zumeist als Letzter erfuhr.
Johan wunderte sich auch über sich selbst. Er fühlte sich seltsam zufrieden bei dem Gedanken, dass Rita Schwierigkeiten bekommen könnte. Brüderliche Ritterlichkeit, ein Bedürfnis, die Schwester zu verteidigen, meldete sich bei ihm nie. Stattdessen hoffte er geradezu, dass sie im Zuge der aktuellen Ermittlungen in die Bredouille geraten würde. Hasste er Rita tatsächlich? Sie war ein ungewöhnlich harter Knochen. Als Kind war sie vom Vater entweder tyrannisiert oder ignoriert worden, und die ewig unzufriedene Mutter hatte sie pausenlos kritisiert. Wer wäre da nicht kalt und berechnend geworden?
Er schlenderte ziellos durchs Haus und befand sich plötzlich oben in dem Zimmer, in dem Karl auch kürzlich wieder gewohnt hatte. Es war Karls ehemaliges Kinderzimmer. Seit Karl 1969 verschwunden war, hatte sich in diesem Raum fast nichts verändert.Die Mutter hatte bestimmt, dass keiner etwas anrühren oder umstellen dürfe. Daran hatten sich alle jahrzehntelang gehalten.
Als Karl jetzt wieder aufgetaucht war, war es Johan wie Schuppen von den Augen gefallen: Man hatte all die Jahre darauf gewartet, dass Karl zurückkommen würde. Irgendjemand hatte vielleicht immer gewusst, dass Karl noch lebte.
Die Ereignisse der vergangenen Tage lasteten wie ein Fluch auf Johan.
Karl hatte den ganzen Tag in der Hütte verbracht und war nach seiner Rückkehr sofort zu Bett gegangen. Er war nicht zum Frühstück erschienen, und der Grund dafür blieb nicht lange im Dunkeln: Karl lag tot in seinem Zimmer.
Danach war es kompliziert geworden. Rita war gekommen und hatte es geschafft, ihn in die Misere hineinzuziehen. Er war blind und willenlos darauf eingegangen, hatte wie immer darauf vertraut, dass sie den klügeren Kopf hatte. Der Plan schien perfekt.
Sie hatten Karl uralte Wandersachen vom Dachboden angezogen, ihn mühsam in den Kofferraum des Autos gestemmt und waren das Tromsdal so weit wie möglich hinaufgefahren. Anschließend wollten sie Karls Leiche abseits des Weges ins Moor schaffen. Dorthin würde sich wohl kein Wanderer verirren.
Johan hatte den Toten in einen alten Sack aus Segeltuch gelegt und hinter sich her gezogen. Woher er überhaupt die Kraft dafür genommen hatte, war Johan bis heute unklar. Es musste das Adrenalin gewesen sein. Jedenfalls war er beinahe vor Angst verzweifelt – davor, dass jemand den Toten in seinem Haus hätte finden können. Also lieber diese Schufterei im Moor.
Der Boden war hart. Auf der dünnen Schneeschicht glitt der Sack gut. Da der Winter unmittelbar vor der Tür stand und es wohl bald heftig schneien würde, rechnete er damit, dass eventuelle Spuren schnell verschwinden würden.
Schön, auf diese Weise aus dem Leben scheiden zu dürfen, würdeman später sagen. Rüstiger Wandersmann im Gebirge tot umgefallen. Bis zuletzt konnte er seiner Leidenschaft frönen. Ein Leben für die Natur. So ähnlich war es gedacht gewesen.
Bis die grässliche Geschichte mit dem Kopf den ganzen Plan zerstörte.
Wer um alles in der Welt hatte das getan? Was für eine groteske, unfassbare Tat! Jetzt war die Polizei eingeschaltet und der Verdacht hatte sich augenblicklich gegen ihn, Johan Fjeld, gerichtet.
Die Polizei hatte Karls alte Sachen förmlich unter die Lupe
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