Im Auge des Feuers
tun. Bis zum nächsten Tag zu warten hatte keinen Zweck. Morgen hätte er vielleicht den Mut und auf jeden Fall die Wirkung einiger starker Drinks verloren.
Als er schließlich die Treppe hinunterging, schlug ihm der Geruch von Mauerwerk und alter Feuchtigkeit entgegen. Der dritteDrink, auch dieser großzügig bemessen, unterdrückte den Impuls umzudrehen ausreichend. Jetzt fühlte er sich mutig genug. Dennoch fiel es ihm schwer, zu atmen und klar zu sehen. Sein Blickwinkel war eigenartig verengt, wie wenn er durch das falsche Ende eines Fernrohrs schaute. Unendlich weit vor ihm lagen das Ende des Kellergangs und das Büro seines Vaters.
Lautes Sprechen schien zu helfen. »Es geht gut … es geht gut … es geht gut …«, wiederholte Johan wieder und wieder wie ein Mantra, als könnte er damit alle möglichen bösen Mächte auf Abstand halten. Es ging tatsächlich gut. Er stand vor der Tür zum Archivraum, in dem er selbst eingeschlossen gewesen war.
Vielleicht würde er die Dämonen endgültig vertreiben, wenn er es wagte, die Tür zu öffnen, hineinzugehen, einen Moment dort zu stehen und dann ruhig wieder hinauszugehen. Er musste wohl schon ziemlich betrunken sein. In nüchternem Zustand wäre er niemals auf solch einen Gedanken gekommen.
Die Tür war nicht verschlossen und konnte ganz einfach aufgezogen werden. Als Johan schließlich mitten im Raum angekommen war, holten ihn die traumatischen Kindheitserlebnisse ein. Dieselbe Angst wie damals stieg in ihm auf. Er erlebte noch einmal mit aller Heftigkeit, wie entsetzt er gewesen war. Es war unbeschreiblich grauenvoll für den Sechsjährigen gewesen, stundenlang in dem finsteren Raum zu hocken, verlassen und verraten. Johan kämpfte mit den Tränen. Er war kaum imstande, sich aufrecht zu halten.
Von der Deckenleuchte draußen im Gang fiel ein schmaler Lichtstreif herein und Johan zwang sich mit aller Gewalt, die Augen etwas weiter zu öffnen.
Seit damals hatte sich viel verändert. Das kleine Fenster war ausgewechselt worden. Es gab Regale mit Ordnern. Aber der Holzschemel, auf dem er damals gesessen und schier endlos geweint hatte, stand noch immer an der Wand. Der unförmige Safe hatteebenfalls nach wie vor seinen Platz in der Ecke. Die gepanzerte Tür stand halb offen.
Johan fröstelte. Er hatte das beklemmende Gefühl, nicht allein hier unten zu sein. Es war, als beobachte ihn jemand.
Er tastete nach dem Lichtschalter, ohne ihn zu finden, wankte näher zum Safe, öffnete die Tür ganz und sah hinein. Johan blickte in matte, milchig weiße Augen, schauerlich gleichgültig und leer. Das Gesicht war nur anhand des grauen Pferdeschwanzes wiederzuerkennen.
Karls Kopf.
Johan schwankte rückwärts hinaus, knallte die Tür zu und stürzte mit animalischem Gebrüll die Kellertreppe hinauf.
Kapitel 41
27. Oktober 2007
Rita Fjeld war sichtlich erregt. Sie fingerte unablässig an Eiras Füllfederhalter herum und bewegte ihren Blick zwischen dem Fenster und den Personen im Raum hin und her. Es wirkte, als strengte sie sich an, die Hände ruhig im Schoß zu halten, während sie auf die neuen Informationen der Polizei wartete.
Sie trug diesmal keine Lockenwickler im Haar. Aber sie wirkte erschöpft. Das konnte sie nicht ausreichend verbergen, auch nicht durch das etwas zu dick aufgetragene Make-up. Trotzdem schien sie ihrer Sache sicher zu sein. Sie saß auf der Stuhlkante und hatte sich ihm direkt zugewandt. Eira spürte instinktiv ihre Abneigung. Ritas Verteidigungsmechanismen hatten sie gestählt und wenig umgänglich werden lassen.
Mit Johan war es anders. Er sank in dem Moment, als er den Sitz berührte, im Stuhl zusammen. Johan war im gleichen Maß abwesend und unkonzentriert, wie Rita auf der Hut zu sein schien. Den Plastikbecher mit Kaffee hatte Johan in drei langen Zügen geleert. Seine Finger umklammerten die Armlehne des Stuhls. Eira hatte sich dafür entschieden, am Anfang mit beiden gleichzeitig zu sprechen. Denn sie besaßen die einzigartige Fähigkeit, das Beste und das Schlechteste des jeweils anderen hervorzutreiben.
»Die Untersuchungen zeigen, dass der unbekannte Mann, der 1969 unter dem Namen ›Karl Fjeld‹ beerdigt worden ist, noch nicht einmal mit Ihnen verwandt war. Aber auch bei ihm haben wir es mit Mord zu tun. Haben Sie irgendeine Vermutung, um welche Person es sich handeln könnte?« Er blickte von einem zum anderen.
Johans entrückter Blick war mit einem Mal fokussiert und scharf. Er sah Eira mit wachem Gesichtsausdruck an.
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