Im Auge des Orkans
Ich
dachte an Max und warum er getötet worden war. Er mußte etwas gesehen haben.
Aber bei diesem Regen, bei diesem Sturm? Alle Anzeichen wiesen darauf hin, daß
er in der Hütte gewesen war und sich ein Abendessen machte, kurz ehe er starb.
Hatte er ein Geräusch gehört und war hinausgegangen, um nachzusehen, was los
war? Oder hatte jemand ihn herausgelockt, um ihn zu ermorden? Wenn ja, warum?
Hatte er etwas gewußt, das dem Mörder gefährlich werden konnte? Vielleicht. Es
gab keine Möglichkeit, das zu erfahren — noch nicht.
Lautes Gelächter aus dem Wohnzimmer riß
mich aus meinen Gedanken. Sie schienen sich wirklich gut zu amüsieren, fand
ich, wenn man bedachte, daß seit den Ereignissen an der Anlegestelle erst
vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Ein paar hatten ihr Bedauern über Max’
Tod ausgedrückt, aber keiner schien sich sehr darüber aufgeregt zu haben.
Vielleicht, weil er nicht zu ihnen gehört hatte, trotzdem war es gefühllos. Es
war beinahe so, als hätte er nie existiert.
Ich blieb noch etwas sitzen, weil ich
keine Lust hatte, hinüberzugehen und höflich zu plaudern. Die Wahrheit war, daß
mir die Leute von Appleby Island — vielleicht mit Ausnahme von Sam — auf die
Nerven zu gehen begannen. Je länger ich über sie nachdachte, desto mehr
beschäftigte mich die Frage, was für Motive sie hierhergeführt hatten, wie ihre
Vergangenheit aussah. Und dann kam mir plötzlich die Idee, daß es nützlich sein
könnte, den Lebenslauf aller Bewohner überprüfen zu lassen. Ich nahm den Hörer
ab und rief meinen Verehrer Greg Marcus zu Hause in San Francisco an.
Er war überrascht, von mir zu hören,
und ich erklärte ihm den Grund.
»Wie viele Leute sollen denn überprüft
werden?«
»Sechs«, antwortete ich. Ich hatte auch
Sam dazugerechnet, aber Patsy und die Kinder weggelassen.
»Mein Gott, du verlangst aber viel von
einem alten Verehrer, was?«
»Ich lade dich zum Abendessen ein, wenn
ich zurück bin.«
»Abgemacht. Nenn mir die Namen.« Ich
zählte sie auf. Als ich fertig war, fragte er: »Sie stammen alle aus
Kalifornien?«
»Sam Oliver ist aus Michigan, und
Stephanie Jorgenson zog erst kürzlich aus der Gegend von Seattle hierher.«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt.
Bis morgen nachmittag habe ich Antwort von der Informationsstelle des
Kriminalgerichts, sicher auch vom Informationscenter der Countys. Aber das FBI
ist in letzter Zeit nicht sehr auskunftsfreudig gewesen.«
»Ich bin froh um jede Information, die
du kriegen kannst. Ich rufe dich wieder an. Es soll niemand mithören.«
Er zögerte. »Ist alles okay bei dir?«
Die Frage klang ehrlich und besorgt, und so nahm ich ihm den väterlichen
Unterton nicht übel. »Ja, mach dir keine Sorgen. Ich melde mich morgen.«
15
Wie sich herausstellte, war das
Abendessen nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Die Vorspeise, Scampi
mit Knoblauchsauce, tröstete mich mehr als genug über die Gesellschaft hinweg.
Neal war ziemlich still und beschränkte seine Kommentare über die verschiedenen
Weine auf ein Minimum. Evans’ Piccata erntete großes Lob, und zum Nachtisch gab
es Erdbeeren in Grand Marnier, eine ziemliche Extravaganz, denn sie mußten aus
einem wärmeren Klima eingeflogen worden sein.
Als wir nach dem Essen alle beim
Barwagen standen, fragte ich Neal, ob ich mir ein Buch aus der Bibliothek holen
könnte.
Er zögerte, dann begann sich sein
Gesicht aufzuhellen. »Ich habe genau das richtige für Sie. Ich habe es gerade
ausgelesen.« Er verschwand in der Bibliothek und kehrte ziemlich schnell mit
einem alten Lederband zurück. Er trug den Titel Familiengeschichte des
Sacramento-Deltas. »Ein ganzes Kapitel geht ausschließlich über die
Applebys«, sagte er. »Bis etwa zur Jahrhundertwende.«
Das Thema gefiel mir. Ich würde noch
einige Zeit hierbleiben, und da konnte ich mich genausogut auch noch mit den
Örtlichkeiten hier beschäftigen und den Leuten, die sie bewohnt hatten. Ich
nahm das Buch, ein paar Vitamintabletten, die ich mir von Patsy erbeten hatte,
und mein Brandyglas mit hinauf in mein Zimmer, und als ich gemütlich im Bett
lag, begann ich das Kapitel Die Applebys von Appleby Island zu lesen.
Unglücklicherweise kam ich nur bis zum Untertitel Der Krieg mit dem
Einsiedler, dann fielen mir die Augen zu. Das gute Essen, der Brandy und
mein immer noch geschwächter Körper taten ihre Wirkung. Ich konnte gerade noch
das Buch auf den Nachttisch legen und das Licht ausschalten, dann
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