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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Treppe hinauf. Auf halbem Weg wurde mir bewußt, daß in meinen
logischen Überlegungen ein Fehler war. Die ganze Zeit hatte ich angenommen, daß
die Person, die so makabre Spielchen auf der Insel trieb und die Max getötet
hatte, ein Außenseiter war. Doch mein Verhalten verriet, daß ich unbewußt die
Hausbewohner verdächtigte. Sonst hätte ich nicht die Fragen gestellt, die ich
gestellt hatte, und Greg Marcus nicht gebeten, die Lebensläufe zu überprüfen.
    Wenn der Eindringling in mein Zimmer kein Fremder war, überlegte ich nun. Er war mit den Räumlichkeiten des Hauses
vertraut gewesen, sonst hätte er mein Zimmer nicht gefunden. Und er hatte
gewußt, daß ich das Buch mit hinaufgenommen hatte. Auffallend war auch, wie
schnell die Person verschwand. Vielleicht kannte sie noch andere Hauseingänge,
so daß sie unbemerkt in ihr Zimmer hatte schlüpfen können.
    Ich kehrte in die Bibliothek zurück und
betrachtete die Regale, auf die meiner Erinnerung nach der Strahl der
Taschenlampe gefallen war. Sicherlich hatte man noch mehr Informationen über
die Applebys gesucht.
    Aber warum — und warum mitten in der
Nacht? Ein Außenseiter hätte sich in jeder Stadtbibliothek informieren können,
er hätte nicht mit einem Boot zur Insel fahren und in das Herrenhaus einbrechen
müssen. Und ein Insider hätte den Inhalt der Bibliothek in aller Ruhe —
    Nein, das stimmte nicht. Bis gestern
nachmittag war die Bibliothek verschlossen gewesen. Und sicherlich behielt sie
Neal auch jetzt noch im Auge, so daß niemand unbemerkt dort herumstöbern
konnte.
    Warum wollte der Unbekannte die
Informationen haben? Als Grundlage für weitere makabre Scherze? Oder wollte er
nicht, daß wir Näheres über die Familie erfuhren?
    Ich ging zum Getränkewagen, goß mir
einen großen Brandy ein und kehrte in die Bibliothek zurück. Ich setzte mich
auf das Sofa, stopfte die Waffe zwischen zwei Kissen und zog meine eisigen Füße
unter mich. Während ich einen Schluck Brandy nahm, betrachtete ich den
orangefarbenen Wollteppich, der den Blutfleck auf dem Boden verdeckte.
Unwillkürlich wanderte mein Blick dann zu der frisch zugegipsten Stelle in der
Wand, wo die Kugel eingeschlagen hatte. Ich begann zu verstehen, warum Neal — vor
allem, wenn man seine Lebensgeschichte bedachte — so auf dieses Zimmer fixiert
war. Es hatte anmutige Proportionen und strahlte gediegene Würde aus, aber es
beherbergte auch Erinnerungen an die dunklere Seite des Lebens, und eine
unterschwellige Atmosphäre von Wildheit und Verzweiflung war zu spüren.
    Neal mußte sie auch gespürt haben, so
wie ich jetzt. Angenommen, eine dritte Person ebenfalls. Und diese Person
beschloß, sie gegen Neal auszuspielen. Die seltsame Erscheinung des Einsiedlers
im Birnengarten konnte geplant gewesen sein, um Neal für die Geschichte der
Insel zu interessieren, damit er sich immer häufiger in der Bibliothek aufhielt,
um Nachforschungen über den ausgestorbenen Familienklan anzustellen. Und wenn
man Neals Probleme bedachte, war eine Leidenschaft für diesen Raum das letzte,
was er brauchte.
    Mein Brandyglas war leer. Ich setzte es
ab und begann, die Regale zu erkunden. Ich las jeden Buchtitel, nach
irgendeinem Hinweis suchend, wonach der Eindringling geforscht hatte. Ich
entdeckte keinen. Dann stöberte ich in den Schubladen unter den Regalen. Da
lagen alte Spiele, alte Schachfiguren und brüchige Spielkarten. Eine alte
Teedose war voll verschiedener Knöpfe. Es gab Schellackschallplatten von Glenn
Miller und Benny Goodman, eine blau-rot gesteppte Nähschatulle mit Stoffresten —
Samt, Seide, getupfter Batist, Organdie. Auch ein Spielzeughund war da, braun
mit weißen Flecken und einem blauen und einem gelben Auge. Auf meiner Uhr war
es zwanzig Minuten nach drei, als ich in das letzte Schrankfach sah, das einen
Stoß Fotoalben und alte Briefe enthielt. Ich trug alles zum Sofa, holte mir
noch einen Brandy und begann, die Sachen durchzusehen.

16
     
    Folgendes hatte sich zugetragen: Ende
1866 traf William Appleby im Delta ein, entschlossen, ein landwirtschaftliches
Imperium zu errichten. Er stammte aus dem Süden, aus Georgia, und hatte im
Sezessionskrieg tapfer gekämpft. Nach Beginn der Neuordnung der politischen
Verhältnisse verließ er seine Familie und ging nach Kalifornien (an seine
zurückgelassene Frau schrieb er, er könne Grausamkeit und Würdelosigkeit der
Sieger nicht ertragen). Es wurde viel von dem reichen Ackerboden in Kalifornien
geredet und daß damit ein Vermögen

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