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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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kann einen anderen Menschen kaufen, und das traurige
ist, daß er das nicht begreift.«
    Es hatte keinen Zweck, auf diesen Punkt
näher einzugehen. So fragte ich: »Haben Sie eine Ahnung, warum er getötet
wurde?«
    »Max?« Denny überlegte eine Minute,
dann antwortete er: »Nein. Max war ein guter Kerl. Es tut mir leid, daß er tot
ist. Aber richtig gekannt habe ich ihn eigentlich nicht.«
     
     
     

14
     
    Sam war zum Ausgehen angezogen und trug
Pullover, Jacke und Jeans und schwere Stiefel. Als er mich sah, rief er: »Gut,
daß ich Sie treffe. Ich habe den anonymen Brief dabei.« Er holte ein
zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche. Es war billiger
Qualität, und man konnte die rauhe Kante erkennen, an der es von einem Block
gerissen worden war. Ich machte es auf und las die getippte Nachricht: »Es wäre
klug von Ihnen, wenn Sie sich im Haus Ihres Bruders Neal auf Appleby Island
einmal die Finanzen ansehen würden. Die Investition ist nicht gut. Es könnte
schiefgehen, wenn Sie nicht bald etwas unternehmen — ein wohlmeinender Freund.«
    Als erstes fiel mir auf, daß der
Verfasser es nicht gewöhnt war, Geschäftsbriefe zu schreiben. Die Sätze klangen
steif und unbeholfen. Der Brief war sauber, aber ungleichmäßig getippt,
mehrmals hatte man sorgfältig verbessert. Vermutlich war es keine elektrische Schreibmaschine
gewesen, vielleicht eine Reiseschreibmaschine. Die Typen hatte man offenbar
längere Zeit nicht geputzt, das Farbband hätte längst ausgewechselt gehört.
»Wann haben Sie ihn erhalten?« fragte ich.
    »Donnerstag vor zwei Wochen.«
    »Und wo war er abgestempelt?«
    »Ich weiß es nicht. Er traf ein, als
ich verreist war, meine Sekretärin hat den Brief geöffnet und den Umschlag
fortgeworfen.«
    »Wird er nicht gewöhnlich aufgehoben,
wenn keine Adresse auf dem Bogen steht?«
    »Ja. Es war eine Aushilfe, sie hatte nicht
viel Erfahrung. Und als ich es merkte, waren die Papierkörbe schon ausgeleert
worden.« Ich drehte das Blatt um. Es war leer und hatte auch kein
Wasserzeichen. Es war schon durch zu viele Hände gegangen, als daß es noch
Zweck gehabt hätte, es auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Ich war überzeugt,
ein Polizeilabor würde auch nicht mehr feststellen können als ich. Trotzdem
fragte ich: »Kann ich den Brief behalten?«
    »Natürlich.« Sam ging auf die Haustür
zu.
    »Wo gehen Sie hin?« fragte ich.
    »Nur spazieren. Trotz der Größe der
Insel komme ich mir etwas eingesperrt vor.«
    »Wo sind Evans, Patsy und die Mädchen?«
    »Zum Einkaufen in Rio Vista.«
    Ich hatte vorgehabt, jetzt mit Patsy
und Evans zu sprechen, und wußte nun nicht, wohin mit mir. »Hätten Sie etwas
dagegen, wenn ich mitkomme«, fragte ich.
    Sam zögerte kurz. »Wenn Sie sich warm
anziehen.«
    »Schön. Ich bin gleich wieder da.« Ich
ging nach oben in mein Zimmer, vertauschte die leichten Slipper mit gefütterten
Stiefeln und zog die blaue Wolljacke über meinen dicken Pullover.
    Sam wartete auf dem Rasen vor dem Haus,
und wir marschierten durch den Nebel los in Richtung Deich und Bootshaus.
    »Hat Ihnen der Brief genützt?« fragte
Sam.
    »Nicht viel. Er klingt etwas naiv, und
ich frage mich, ob der Verfasser von Finanzen überhaupt etwas versteht.
Eigentlich bin ich erstaunt, daß Sie ihn ernst genommen haben.«
    »Habe ich auch nicht. Aber wenn es um
Neal geht, fühle ich mich verpflichtet, alles nachzuprüfen.«
    Als wir oben auf dem Deich standen, war
ich ziemlich außer Atem. Sam war so taktvoll zu tun, als bemerke er es nicht.
Oder vielleicht war er auch von dem Nebel so beeindruckt. »Es ist, als stünde
man auf einem Gipfel zwischen zwei Tälern aus Schnee«, sagte er.
    Es war eine passende Beschreibung. Zu
beiden Seiten des Deichs lag der Nebel dicht und schwer und verdeckte den Boden
und das Wasser. Das Flachdach des Bootshauses und ein paar größere Bäume ragten
aus der weißen Decke seltsam verloren hervor.
    »Ist es hier oft so?« fragte Sam.
    »Zu dieser Jahreszeit vermutlich
schon.«
    Ich begann, den Deich entlangzuwandern,
und stellte fest, daß ich mich automatisch von der Anlegestelle der Fähre
weggewandt hatte. Max war zwar auf der anderen Seite getötet worden, aber ich
wollte dem Schauplatz seines Todes möglichst nicht nahe kommen. »Sind Sie viel
älter als Neal, Sam?« fragte ich.
    »Zwei Jahre jünger. Warum?«
    »Ich wollte es genau wissen. In mancher
Hinsicht wirken Sie jünger — so wie Sie sich anziehen und aussehen. Aber die
Art, wie Sie sich ihm

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