Im Auge des Orkans
gegenüber verhalten — wie ein älterer Bruder.«
»Die Rolle habe ich bei ihm immer
gespielt.«
»Warum?«
»Neal brauchte immer Schutz, und so ist
mir diese Rolle zugefallen. Als Kind war er nicht sehr kräftig, schon in der
Schule mußte ich mich um ihn kümmern. Und auch heute noch mache ich mir Sorgen
um ihn.«
»Weil er psychisch so instabil ist?«
»Ja.«
»Wissen Sie über seine Fixierung auf
die Bibliothek Bescheid?«
»Sie meinen, weil er sie abgeschlossen
hat und niemand hineinläßt? Ja, wir haben uns darüber unterhalten. Ich habe ihn
davon überzeugt, daß er die anderen verärgert, und er hat versprochen, sie von
nun an offenzulassen.«
»Sagte er, es sei wegen der kostbaren
Bücher gewesen?«
»Meiner Meinung nach nicht ganz.«
Ich erzählte ihm von meinen
Vermutungen, die mir während meines Gesprächs mit Neal gekommen waren. Als ich
geendet hatte, schwieg Sam eine ganze Weile.
»Suchen wir uns etwas zum Hinsetzen«,
sagte er schließlich.
Ich blieb stehen und blickte mich um.
Auf der Seite zum Wasser lag ein umgefallener Baum genau an der Nebelgrenze.
Ich deutete auf ihn, und wir kletterten hinunter und setzten uns.
»Ich wollte Sie nicht beunruhigen«,
sagte ich.
»Das konnten Sie nicht wissen.«
»Aber ich dachte, Sie sollten es
erfahren.«
»Ich bin Ihnen auch dankbar dafür.« Er
verschränkte die Hände und ließ die Arme zwischen den Knien baumeln. Nach
einiger Zeit meinte er: »Neals Schwierigkeiten hörten mit der Schule nicht auf.
Er hatte nur wenig Freunde und Pech bei den Mädchen. Er bemühte sich gar nicht,
einen Freund zu finden. Vielmehr legte er sich eine dicke Haut zu und wurde ein
großer Spötter.«
»Evans war aber ein Freund von ihm,
nicht?«
»Einer von den wenigen, ja.« Sam
räusperte sich. »In der High-School hatte Neal gute Noten, er kam nach Harvard.
Ein paar Jahre lang schien er okay zu sein. Er konnte sich behaupten. Dann
erschien ich auf der Bildfläche, der kleine normale und fröhliche Bruder. Seine
Freunde mochten und akzeptierten mich. Neal verschanzte sich wieder hinter
seinem Spott, weil er sich verstoßen fühlte, und seine Freunde begannen, ihn zu
meiden. Er ließ in seinen Leistungen nach, und schließlich warf man ihn hinaus.«
»Haben Sie Ihr Examen in Harvard
gemacht?«
»Ja. Neal ging nach Boston und nahm
sich ein möbliertes Zimmer. Er lebte von dem Erbe seiner Großmutter. Damit war
er bei meinen Eltern endgültig unten durch. In ihrem Testament verfügten sie -«
»Patsy hat es mir erzählt. Wie ich
hörte, sind sie etwa zur gleichen Zeit gestorben.«
»Ja.«
»Wie kam das?«
Er zögerte, öffnete die Hände und
betrachtete sie. »Sie haben sich umgebracht«, antwortete er leise. »Mein Vater
war unheilbar krank, und meine Mutter wollte nicht ohne ihn weiterleben. Bei
ihm wirkten die Tabletten sofort, aber meine Mutter lag noch fünf Tage im Koma.
Neal und ich waren völlig gebrochen. Es erschien uns wie Verrat. Und dann
erfuhr er, was im Testament stand.« Er preßte die Hände zusammen, und ich
spürte, wie seine Arme vor Anspannung zitterten.
»Wie reagierte er?«
»Er hatte einen Zusammenbruch. Er
glaubte, daß sein Versagen irgendwie an ihrem Entschluß, sich umzubringen, mit
schuld war. Ich war zwar selbst in keiner besonders guten Verfassung, aber ich
schaffte es, ihm durchzuhelfen. Ich brachte ihn in einer psychiatrischen Klinik
bei Ann Arbor unter, wo ich ihn häufig besuchen konnte. Wir redeten
stundenlang. Wir besuchten sogar Seminare zur Trauerbewältigung.« Er lachte
bitter auf. »Wie das klingt!«
»Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum
Neals Vorliebe für die Bibliothek Sie so erregt hat. Was werden Sie nun tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es
nicht. Vielleicht verliert sie an Anziehungskraft, wenn sie allen zugänglich
ist.« Es klang nicht überzeugend. Er stand auf und hielt mir die Hand hin.
»Gehen wir jetzt lieber nach Hause. Meinen Informationen nach soll das
Spezialdinner von gestern heute nachgeholt werden. Das bedeutet: Cocktails um
sieben Uhr. Und kommen Sie ja nicht zu spät!«
Ich nahm die dargebotene Hand und ließ
mich von ihm hochziehen. »Es ist erst fünf.«
«Ich glaube, Sie brauchen Ruhe. Sie
sehen etwas blaß aus.«
Wir kletterten den Deich hinauf und
machten uns schweigend auf den Heimweg. Als wir über den nebelverhüllten Rasen
gingen, mußte ich mir eingestehen, daß Sam recht hatte. Ich fühlte mich
erschöpft, meine Kehle war rauh, und der Kopf begann, mir weh zu
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