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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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aufzurichten. Die eine Hand hatte er in einem merkwürdigen Winkel abgespreizt. Was tat er hier? Was ging hier vor?
    Die Tür schloss sich hinter ihr. »Nicht schreien, Anna.«
    Da war Blut auf Toms linker Hand, und warum hielt er sie so komisch, warum war sie so angeschwollen, warum stand der kleine Finger so schief ab? Annas Nerven brannten, als hätte sie auf Metall gebissen. Sie keuchte, presste sich die Hand vor den Mund und taumelte nach vorne, auf ihren Mann zu. Doch als sie den Ausdruck auf Toms Gesicht bemerkte, hielt sie inne.
    Manchmal hatte Anna das Gefühl, dass sie einander schon seit hundert Jahren kannten. Jede Geste, jeder Gesichtsausdruck war ihr vertraut, und sie konnte sie alle im Geiste zum Leben erwecken: das lässige Lächeln, wenn er den Kopf leicht auf die Seite legte, während sich diese kleinen Fältchen um seine Augen bildeten. Oder das trunkene Räkeln mit halbgeöffneten Augen und Lippen, wenn sie miteinander schliefen. Die präzise zusammengekniffenen Augen beim Lesen, die weniger die Wörter in den Blick bringen, als die restliche Welt aussperren sollten.
    Doch diesen Gesichtsausdruck hatte sie noch nie gesehen. Sie erkannte Angst in seinen weit aufgerissen Augen, Schmerz in den aufeinandergepressten Lippen. Und Sorge, Sorge um sie, in dem nach vorne geneigten Kopf und der Anspannung des ganzen Körpers. Aber da war noch etwas anderes: eine wachsame Zurückhaltung, wie ein Metallgitter vor einer Ladentür. Und, hinter den Gitterstäben, eine scharfe, schmerzliche Anschuldigung.
    Daher war sie nicht überrascht, als der Mann in ihrem Rücken sagte: »Schon komisch, Anna. Tom dachte wirklich, es wäre im Keller.«
    Sie drehte sich um und fletschte die Zähne gegen diese Kreatur, dieses Monstrum, das ihren Mann verletzt hatte, das seine Hand zertrümmert und seine Augen vergittert hatte – und blickte direkt in den Lauf einer riesigen Pistole. Das Loch sog den Raum ein, bis hinter dem schwarzen Kreis nur noch vage Schatten existierten, und einer der Schatten fragte: »Anna. Was hast du mit meinem Geld gemacht?«
     
    Er hatte die Wahrheit gesagt. Jack hatte die Wahrheit gesagt, und seine Frau hatte gelogen.
    Im ersten Moment, als Jack die Tür aufgerissen und Anna gepackt hatte, als er sie ins Zimmer geschleudert hatte wie mit einem Peitschenschlag, war Tom instinktiv in die Höhe gefahren, um sie aufzufangen, sollte sie hinfallen. Aber dann waren sich ihre Blicke begegnet, und er wusste es: Sie hatte das Geld genommen.
    Sie hatte das Geld genommen, ohne ihm ein Wort davon zu sagen. Deshalb hatte er auf dem dreckigen Kellerboden liegen müssen, mit einer Pistole im Rücken. Deshalb hatte man ihm die Finger zerstampft und gebrochen. Deshalb hatte Jack ihm eine Waffe in den Bauch gebohrt. Jack, der absolut kein Problem damit hatte, ihn umzubringen. Aber noch schlimmer als alle Folgen war die Tatsache selbst: Seine Frau hatte ihn verraten.
    Halt. Dafür ist jetzt keine Zeit. Tom versuchte gar nicht erst, seine Gefühle zu vergessen, er schob sie einfach nur zur Seite. Wenn sie hier rauskommen wollten, musste er bei der Sache sein.
    Anna war ein paar Schritte entfernt stehen geblieben, in der einen Hand noch immer den Schlüsselbund, die andere nach hinten ausgestreckt, als müsste sie einen Sturz abfangen. »Welches Geld?«
    »Das weißt du doch, Anna.«
    Sie zögerte. »Es ist nicht hier.«
    »Wo ist es dann?«
    »In Sicherheit.«
    Nein , dachte Tom, treib keine Spielchen mit ihm, er –
    Jacks Hand klatschte über ihr Gesicht. Vom Sessel aus sah Tom, wie ihr Kopf zur Seite knickte, wie der Schlag ihren ganzen Körper beben ließ, und er sprang auf, ohne weiter nachzudenken, getrieben von Instinkt und purem Hass. Doch Jack war ihm einen Schritt voraus – und richtete sofort die Pistole auf Toms Brust. Tom überlegte, ob er es versuchen sollte. Er wollte es versuchen. Er wollte es so sehr. Aber bevor er die Entfernung zu Jack überbrückt hätte, – hätte er sich längst eine Kugel eingefangen.
    Kalt. Er musste eiskalt sein. Eiskalt und hart, um zu ertragen, was Jack mit ihnen anstellte. Damit er handeln konnte, wenn es so weit war. Tom ließ die Arme sinken.
    Jack nickte, hielt die Pistole weiter auf ihn gerichtet und wandte sich Anna zu. »Das versuchen wir gleich nochmal, Liebling. Wenn mir deine Antwort wieder nicht gefällt, erschieße ich deinen Mann. Also, wo –«
    »Oben. Es ist oben.« Die Worte stürzten aus Annas Mund.
    »Zeig’s mir.« Er deutete mit der Pistole. »Du

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