Im Bann der Dunkelheit
Erkenntnissen. Offenbar hatten einige Experimente die Grundlage für vielversprechende genetische Therapien gelegt.
Manuel hatte seine Seele verkauft, weil er hoffte, daß Toby durch eine der experimentellen Therapien verwandelt werden konnte. Und ich hege den Verdacht, er träumte davon, daß seinem Sohn eine geistige und körperliche Verwandlung zuteil würde.
Eine geistige Verbesserung mochte durchaus möglich sein.
Wir wissen, daß sich einige Wyvern-Projekte mit der Intelligenzsteigerung befaßten und es verblüffende Erfolge gegeben hatte - siehe Orson.
»Wie macht sich Toby?« fragte ich.
Während ich sprach, hörte ich hinter mir ein verstohlenes, aber verräterisches Geräusch. Das Geräusch einer aufgleitenden Schublade. Der Schublade mit den Messern.
Als ich mich zwischen Bobby und Manuel gestellt hatte, wollte ich damit lediglich die eskalierende Spannung zwischen den beiden abbauen und keineswegs Bobby decken, damit er sich bewaffnen konnte. Ich wollte ihm irgendwie mitteilen, daß er sich beruhigen sollte, aber ich wußte nicht, wie ich das anstellen sollte, ohne Manuel zu alarmieren.
Außerdem gibt es Augenblicke, in denen Bobbys Instinkte viel zuverlässiger als meine sind. Wenn er glaubte, diese Situation würde zwangsläufig zur Gewalt führen, dann hatte er vielleicht recht damit. Wie es schien, hatte meine Frage nach Toby das Schubladengeräusch kaschiert, denn Manuel ließ nicht erkennen, daß er es gehört hatte.
Sein glühender Stolz auf Toby, gleichzeitig anrührend und erschreckend, konnte die Wut in ihm trotzdem nicht dämpfen; die beiden Emotionen ergänzten sich auf unheimliche Weise. »Er kann jetzt besser und schneller lesen. Versteht mehr. Kommt besser mit Mathe zurecht. Was ist verkehrt daran? Ist es ein Verbrechen?«
Ich schüttelte den Kopf.
Obwohl manche Leute sich über Tobys Aussehen lustig machen oder ihn ganz meiden, ist er die Sanftmut in Person.
Mit seinem dicken Hals, den runden Schultern, den kurzen Armen und stämmigen Beinen erinnert er mich an die guten Zwerge aus den Abenteuergeschichten, die mich in meiner Kindheit so begeistert haben. Seine geneigte und schwere Stirn, die tiefsitzenden Ohren und weichen Züge sowie die Mongolenfalte verliehen ihm etwas Träumerisches, das zu seiner friedfertigen Persönlichkeit paßte.
Trotz seiner Behinderungen war Toby stets glücklich und zufrieden gewesen. Es macht mir Sorgen, daß die Leute von Wyvern seine Intelligenz so weit steigern werden, daß er schließlich mit seinem Leben unzufrieden wird - aber nicht weit genug, um ihn mit einem durchschnittlichen IQ auszustatten. Wenn sie ihm die Unschuld rauben und ihn zu einem Bewußtsein verdammen, das ihn nur quält, das ihm keine der lebenswerten Alternativen mehr ermöglicht, dann werden sie ihn dadurch vernichten.
Ich weiß alles über das Thema unstillbare Sehnsucht, über das sinnlose Streben, jemand zu werden, der man niemals sein kann.
Und auch wenn ich nur schwer daran glauben kann, daß Toby durch eine genetische Behandlung ein radikal verändertes Aussehen erhalten wird, befürchte ich, daß er, falls man es mit ihm versucht, zu einem Menschen werden könnte, dessen Anblick im Spiegel er selbst nicht ertragen könnte. Wer nicht in der Lage ist, die Schönheit im Gesicht eines Menschen mit Down-Syndrom zu erkennen, ist entweder blind für jegliche Schönheit oder hat soviel Angst vor etwas Andersartigem, daß er nicht anders kann, als vor einer derartigen Konfrontation zurückzuschrecken. In jedem Gesicht selbst im schlichtesten oder bedauernswertesten Antlitz liegt ein kostbarer Anteil des göttlichen Bildes, von dem wir nur eine Spiegelung sind, und wenn man mit offenem Herzen jemanden betrachtet, erkennt man die überwältigende Schönheit, den Abglanz von etwas Strahlendem, daß es einem warm wird. Doch wird Toby dieses Strahlen bewahren können, wenn er von den Wyvern-Wissenschaftlern umgestaltet wird, wenn sie ihn einer radikalen Umwandlung unterziehen?
»Er hat jetzt eine Zukunft«, sagte Manuel.
»Wirf deinen Jungen nicht in den Dreck«, erwiderte ich.
»Ich ziehe ihn da raus.«
»Er wird nicht mehr dein Junge sein.«
»Er wird endlich der sein, der er sein sollte.«
»Er war bereits der, der er sein sollte.«
»Du kennst den Schmerz nicht«, sagte Manuel verbittert.
Er meinte lediglich seinen eigenen Schmerz, nicht den von Toby. Toby lebt im Frieden mit der Welt. Oder hat es zumindest.
»Du hast ihn doch immer so geliebt, wie er war«,
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