Im Bann der Dunkelheit
geschwollene Zunge quoll zwischen verzerrten Lippen und entblößten Zähnen hervor. Abrinnspuren - durch die von der Zersetzung produzierte Aus- scheidungsflüssigkeit, die von Laien oft für Blut gehalten wird - liefen aus Mund und Nase. Die Haut war hellgrün, stellenweise grünlichschwarz, aber auch von der Hämolyse der Venen und Arterien marmoriert.
»Der muß seit... wie lange?« sagte Bobby. »Seit einer Woche, vierzehn Tagen hier liegen?«
»So lange noch nicht. Vielleicht seit drei, vier Tagen.«
Das Wetter war in der vergangenen Woche mild gewesen, weder warm noch kalt, so daß sich einigermaßen berechnen ließ, wie schnell die Leiche sich zersetzt haben mußte. Wäre der Mann viel länger als vier Tage tot gewesen, wäre die Haut nicht hellgrün, sondern grünschwarz gewesen, mit einigen völlig schwarzen Stellen. Es war zu Blasenbildung und Haut- und Haarablösung gekommen, aber nicht in extremem Ausmaß, so daß ich eine fundierte Vermutung über den Zeitpunkt des Selbstmords anstellen konnte. »Läufst du noch immer mit der Forensischen Pathologie im Kopf herum?« sagte Bobby.
»Allerdings.«
Meine Ausbildung in Sachen Tod war erfolgt, als ich vierzehn Jahre alt war. Wenn Jungen ins Teenageralter kommen, entwickeln die meisten eine morbide Faszination für gruselige Comichefte, Horrorromane und Monsterfilme. Heranwachsende messen ihre Annäherung ans Mannesalter an der Fähigkeit, die schlimmsten Ekelhaftigkeiten zu ertragen, jene Anblicke und Vorstellungen, die den Mut, die geistige Ausgeglichenheit und den Würgreflex auf die Probe stellen.
Damals hatten Bobby und ich für H. P. Lovecraft, die glitschigbiologische Kunst von H. R. Giger und für mexikanische Horrorfilme mit geringem Budget, aber jeder Menge Blut geschwärmt.
Wir entwuchsen dieser Faszination nicht in einem Ausmaß, in dem wir anderen Aspekten unserer Pubertät entwuchsen.
Zu jener Zeit jedenfalls erkundete ich den Tod gründlicher als Bobby und ging von schlechten Filmen zum Studium zunehmend klinischerer Bücher über. Ich informierte mich über die Geschichte und die Techniken der Mumifizierung und des Einbalsamierens und lernte die schaurigen Einzelheiten von Epidemien wie dem Schwarzen Tod kennen, der zwischen 1348 und 1350 in Europa die Hälfte der Bevölkerung dahinraffte.
Mittlerweile war mir klar, daß ich mich in das Studium des Todes vertieft hatte, weil ich hoffte, auf diese Weise die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Lange vor der Adoleszenz wußte ich, daß wir alle Sand in einem Stundenglas sind, der stetig aus der oberen Kugel in die Stille der unteren sickert, und daß bei meinem ganz besonderen Stundenglas der Hals zwischen den Kugeln breiter war als bei den meisten anderen und der Sand schneller fiel. Es war für einen so jungen Menschen eine sehr schwer zu tragende Wahrheit, aber indem ich zum Friedhofsexperten wurde, wollte ich dem Tod wohl seinen Schrecken rauben.
Angesichts der enormen Sterblichkeitsrate von Menschen mit XP hatten meine ganz besonderen Eltern mich dahingehend erzogen, daß ich lieber spielte als arbeitete, Spaß hatte und nicht mit Besorgnis, sondern mit einem Gefühl der Neugier in die Zukunft blickte. Von ihnen lernte ich, Gott zu vertrauen, zu glauben, daß ich zu einem bestimmten Zweck geboren war, kurz: frohgestimmt zu sein. Dementsprechend waren Mama und Dad angesichts meiner Besessenheit vom Tod eher besorgt, aber da sie Akademiker waren und an die befreiende Macht des Wissens glaubten, hielten sie mich nicht von der Beschäftigung mit diesem Thema ab.
Es war sogar so, daß ich Dad bat, mir das Buch zu besorgen, das meine Studien über den Tod vervollständigte: Forensische Pathologie, erschienen bei Eisevier in einer Reihe dicker Bände, geschrieben für Vertreter des Gesetzes, die berufshalber mit Ermittlungen in Mordfällen zu tun haben. Dieser grausige Wälzer, der großzügig mit Fotos von Opfern ausgestattet war, die das vor Wißbegier glühendste Herz abkühlen lassen und wohl auch in den kältesten Herzen Bedauern hervorrufen, steht nur in den wenigsten Bibliotheken und wird normalerweise auch nicht an Kinder ausgegeben. Mit vierzehn hätte ich bei einer Lebenserwartung von höchstens zwanzig Jahren.zumindest ging man damals davon aus - allerdings argumentieren können, daß ich kein Kind mehr war, sondern meine mittleren Jahre schon hinter mir lagen.
Forensische Pathologie deckt die Myriaden von Möglichkeiten ab, wie wir ums Leben kommen können: Krankheit, Tod
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