Im Bann der Gefuehle
sie, sondern das ganze Leben, das sie sich aufgebaut hatte, ihre Unabhängigkeit und – was am schlimmsten war – ihren Sohn.
„Was willst du von mir?“ In diesem Augenblick machte es ihr herzlich wenig aus, dass ihre Stimme gebrochen, unsicher und heiser klang.
„Einfach nur reden. Zwischen uns ist noch lange nicht alles ausgesprochen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, rückte er auf seinem Sitz zur Seite, um den Platz für Carys frei zu machen.
Mit zitternden Knien stieg sie ein, und ihr regennasser Mantel blieb an den Ledersitzen kleben. Ledersitze! Für den Conte Mattani war das Beste natürlich gerade gut genug.
Da hatte sie, Carys, als durchschnittliche, alleinerziehende Mutter ohne einen Hauch von Glamour nicht die geringste Chance – denn sie gehörte in seinen Augen nicht gerade zur Elite. Das hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben.
Aber vielleicht sah er das in Bezug auf seinen Sohn ganz anders?
Die Wagentür schlug hinter Carys zu, und sie schloss für einen Moment ergeben die Augen. Jetzt gab es kein Entkommen mehr, und Alessandro hatte sie genau da, wo er sie haben wollte.
Er sah so unnahbar aus wie ein archaischer Aristokrat, der sich gerade eine neue, unschlagbare Kriegstaktik ausdachte. Und Carys war ihm in vielerlei Hinsicht unterlegen, was nicht gerade zu Gelassenheit und Zuversicht beitrug. Ganz im Gegenteil, sie beschlich das unheilvolle Gefühl, einem erbitterten Feind ausgeliefert zu sein.
Und sie wagte es auch nicht, ihn zu fragen, wohin sie eigentlich fuhren. Wenn er sich darauf versteifte, sie missmutig anzuschweigen – das konnte sie auch! Außerdem verschaffte ihr die Stille ein wenig Zeit, sich zu sammeln und ihre Gedanken zu sortieren.
Und plötzlich, während sie durch eine getönte Trennscheibe auf Brunos Hinterkopf starrte, fiel ihr etwas wieder ein. Genau diese Silhouette war ihr vergangene Nacht in der Nähe ihrer Wohnung aufgefallen. Ein fremder, bulliger Mann, der sich auf der dunklen Straße herumdrückte, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben.
„Bruno hat mich gestern observiert“, stellte sie fest und sah Alessandro vorwurfsvoll an, der ihren Blick ungerührt erwiderte. „Spionierst du mir nach, oder sollte er mich etwa beschützen?“
„Du warst schließlich mitten in der Nacht allein unterwegs, also hielt ich es für ratsam, dir Rückendeckung zu geben.“
Früher einmal hätte Carys sich über einen so ausgeprägten Beschützerinstinkt gefreut und wäre begeistert gewesen, dass sich jemand ernsthaft um sie sorgte. Doch ziemlich bald hatte sie ihren Denkfehler erkannt. Alessandro war einzig daran interessiert, sie zu isolieren und vom Rest seines Lebens auszuschließen. Auch dies war eine ausgeklügelte Taktik gewesen, um zu verschleiern, inwieweit er Carys schlichtweg ausnutzte.
„Ich bin durchaus in der Lage, selbst auf mich aufzupassen. Das habe ich auch getan, bevor du hier aufgetaucht bist.“ Sie legte beide Arme um ihre Lederhandtasche und sah mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster.
Carys war sehr stolz auf das, was sie erreicht hatte. Seit ihrer Ankunft in Australien hatte sie mit ihrem gebrochenen Herzen zu kämpfen und es trotzdem geschafft, für sich und Leo eine Existenz aufzubauen. Und sie arbeitete sehr hart daran, sie beide auf lange Sicht finanziell abzusichern.
„Ist das so?“ Die Skepsis klirrte scharf durch jede einzelne Silbe seiner Worte. „Meinst du tatsächlich, du hast dir die richtige Nachbarschaft ausgesucht, um dort ein Kind großzuziehen?“
Augenblicklich erstarrte Carys. Nun kamen sie also endlich zum Kern des Ganzen.
Nur mit Hilfe ihres Vaters hatte sie sich nach der Geburt von Leo durchschlagen können, und auch die Anstellung im Landford warf gerade genug Geld für Miete und Kinderbetreuung ab. Darüber hinaus ließen sich mit einem derart schmalen Gehaltsscheck keine großen Sprünge machen.
„So schlimm ist diese Gegend gar nicht“, verteidigte sie sich halbherzig, denn Alessandro hatte nicht ganz unrecht. Carys selbst fühlte sich in dem Nest, das sie für sich und ihren Sohn erschaffen hatte, von Woche zu Woche unwohler. Irgendwann wollte sie ohnehin um Leos willen umziehen, nur fehlte bislang eben das entsprechende Kleingeld.
„Wenn du es sagst“, antwortete er übertrieben gelangweilt.
Habe ich mich getäuscht?, wunderte Carys sich im Stillen. Dies ist die ideale Gelegenheit, die Sorgerechtsfrage auf den Tisch zu bringen, und Alessandro lässt sie einfach verstreichen?
Aber wenn er es nicht auf ihr
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