Im Bann der Gefuehle
Stich. Selbst nach all dieser Zeit schaffte Carys es nicht, das erdrückende Bedauern abzuschütteln. Andererseits durfte sie nicht in Selbstmitleid versinken. Früher einmal war sie einem Traum hinterhergejagt, aber das war lange vorbei. Inzwischen hatte sie begriffen, wie grausam und zerbrechlich dieser Traum gewesen war.
„Carys? Was ist denn eigentlich los?“
„Nichts.“ Hastig zwang sie sich zu einem Lächeln, da sie wusste, wie genau Sarah die Stimmung ihrer Freundin auch durch die Telefonleitung heraushören konnte. „Ich schulde dir etwas.“
„Ganz sicher sogar. Du kannst nächste Woche für uns als Kindermädchen einspringen. Wir würden gern einen Abend in der Stadt feiern gehen, falls du dich um Ashleigh kümmerst.“
„Abgemacht.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Zeit drängte, bevor die nächste Krise ausbrach. „Vergiss nicht, Leo einen Gute-Nacht-Kuss von mir zu geben!“
Es bedrückte Carys, heute nicht mit ihrem Sohn Abendbrot zu essen und ihn nicht selbst ins Bett bringen zu können. Immerhin war er in guten Händen, und sie selbst sollte sich glücklich schätzen, einen Job zu haben, der ihr normalerweise viel Zeit mit ihrem Kind ermöglichte. Das Management des Hotels erlaubte ihr aus Überzeugung, familienfreundliche Arbeitszeiten einzuhalten.
Der heutige Tag war eine Ausnahme. Die Grippe, die im Personalstamm des Hotels grassierte, hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt zuschlagen können. Mehr als ein Drittel der Angestellten hatten sich inzwischen krankgemeldet, und ausgerechnet jetzt waren diverse Großveranstaltungen geplant.
Daher musste Carys einspringen, obwohl sie bereits einen vollen Arbeitstag mit Zusatzschicht hinter sich hatte. Vor einer Stunde war David, der stellvertretende Veranstaltungsmanager, mit Fieber zusammengebrochen, und so musste Carys auch noch ihn vertreten.
In ihrem Magen rumorte es. Dies war eine einmalige Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und David zu beweisen, dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. Immerhin hatte er sie trotz fehlender Referenzen und unvollständiger Qualifikation eingestellt und war ihr stets ein guter Freund sowie ein hervorragender Mentor gewesen. Carys verdankte ihm nicht nur ihre berufliche Position, sondern auch ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen. An dieser Eigenschaft arbeitete sie mühsam und unentwegt, seit sie nach Melbourne gekommen war.
„Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin, Sarah. Wahrscheinlich erst in den frühen Morgenstunden.“ Wie sie nach Hause kommen sollte, darüber wollte Carys sich im Augenblick lieber keine Gedanken machen. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren zu dieser Zeit nicht mehr, und ein Taxi war viel zu teuer. „Ich komme dann so zur Frühstückszeit zu euch rüber, wenn das in Ordnung ist?“
„Völlig, Carys, mach dir keine Sorgen! Komm einfach irgendwann vorbei!“
Nachdem Carys aufgelegt hatte, massierte sie sich mit beiden Händen die Schultern und dehnte ihren Nacken. Sie hatte heute schon etliche Stunden am Computer und am Telefon gesessen, die Anstrengung machte sich nun bemerkbar. Ihr ganzer Körper schmerzte, und die Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm tanzten wie kleine Insekten vor ihren Augen hin und her.
Energisch kniff Carys sich in den Nasenrücken und schloss die Augen. Ihre Arbeit zu erledigen, würde an diesem Tag das Ergebnis außergewöhnlicher Disziplin und Entschlossenheit werden, soviel war sicher!
Seufzend griff sie nach ihrer Lesebrille und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu. Erst danach konnte sie sich endlich den letzten Vorbereitungen für den heute geplanten Maskenball widmen.
Carys stand in einer Ecke des Ballsaals nahe der Tür zum Küchenbereich und lauschte dem Oberkellner, der sie im Flüsterton organisatorisch auf den neuesten Stand brachte. In der Küche herrschte wegen der grippebedingten Unterbesetzung das reinste Chaos. Für die ausgefallenen Servicekräfte konnten auf die Schnelle nur zwei Ersatzkellner engagiert werden, und auch die Köche befanden sich ohne Zuarbeiter in Bedrängnis.
Zum Glück war den Gästen bisher nicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Das Landford rühmte sich selbst für einen außergewöhnlich guten Service, und alle Angestellten übertrafen sich selbst, um diesem exzellenten Ruf gerecht zu werden.
Der elegante Saal war ganz in Schwarz und Gold dekoriert. Antike Kronleuchter warfen ein warmes Licht auf die höchst exklusive Festgesellschaft. Überall
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