Im Bann Der Herzen
begegnet war, hätte er sich gewiss seinen Reim darauf gemacht.
»Ins Zentrum?«, sagte Mrs. Beedle voller Bewunderung. »Dort möchte ich auch gern hin, vor allem in der Zeit der Feiertage. Ich sehe mir zu gern die großen Geschäfte mit ihren Weihnachtsdekorationen an. Also, was darf es sein, Doktor?«
»Ach, das Übliche ... Lakritze und Bonbons, je ein Pfund, Mrs. Beedle«, sagte Douglas mit seiner angenehmen Stimme. »Außerdem habe ich einen Brief dabei, der abgeholt werden soll.«
»Ach ja. Legen Sie ihn einfach auf den Ladentisch hier drüben, Doktor.« Chastity, die unverändert wie gelähmt hinter dem Vorhang saß, hörte nun, wie Mrs. Beedle Süßigkeiten aus Dosen schüttelte und abwog.
Schließlich schluckte sie das Kuchenstück hinunter und leckte die Marmelade von den Fingern. Dann trank sie vom Kakao, sehr bedacht, den Becher geräuschlos vom Hocker zu heben. Zwar würde Douglas als gewöhnlicher Kunde kein Interesse an den Geräuschen zeigen, die aus den Privaträumen der Ladenbesitzerin drangen, doch minderte dies ihre Nervosität keineswegs.
Sie horchte, als das Gespräch mit ein paar Artigkeiten beiderseits zu Ende ging und die Türglocke anzeigte, dass der Kunde gegangen war. Mrs. Beedle kam wieder in die Küche, in der Hand einen Brief. »Das ist aber merkwürdig, Miss Chas«, sagte sie. »Dr. Farrell hinterließ einen Brief für The May fair Lady. Ist das nicht ein Zufall... und Sie sitzen leibhaftig hier bei mir?«
»Ja, allerdings«, musste Chastity zugeben und griff nach dem Brief, den Mrs. Beedle ihr reichte. »Aber es schreiben halt sehr viele unterschiedliche Menschen an die Zeitung.«
»Das ist wohl richtig«, meinte ihre Gastgeberin. »Aber es sieht dem Doktor so gar nicht ähnlich. Warum er wohl schreibt?«
»Ich kann es mir nicht denken«, erwiderte Chastity aufgeräumt und schob den Brief ungeöffnet zu den anderen in die Tasche. Dann stand sie auf und nahm Handschuhe und Schal vom Tisch. »Ich muss laufen, Mrs. Beedle. Haben Sie vielen Dank für Kakao und Kuchen. Jetzt kann ich es mit dem Wetter wieder aufnehmen.«
»So ist es, Miss Chas. Grüßen Sie mir Miss Pru und Miss Con.«
»Danke. Da ich Sie vor Weihnachten nicht mehr sehen werde, wünsche ich Ihnen jetzt schon ein schönes Fest, Mrs. Beedle, und ein glückliches neues Jahr.«
»Ich Ihnen ebenfalls, meine Liebe.« Mrs. Beedle folgte ihr in den Ladenraum.
Chastity öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinaus. Douglas bog eben in einiger Entfernung um die Straßenecke. »Wiedersehen, Mrs. Beedle.« Sie winkte und trat hinaus auf den Bürgersteig. Douglas lief in die Gegenrichtung ihres Heimweges, dennoch folgte sie ihm, ohne sich die Sache ernsthaft zu überlegen. Sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen, wollte aber unbedingt herausfinden, wohin er mit seinen zwei Pfund Süßigkeiten ging.
An der nächsten Ecke sah sie ihn vor sich, wie er forsch dem Ende der Straße zustrebte. Sie wartete, bis er wieder um die Ecke gebogen war, dann hetzte sie auf höchst undamenhafte Weise los, aus Angst, ihn womöglich zu verlieren.
Die Umgebung wurde zunehmend verkommener und schmutziger. Nur wenige Menschen waren zu sehen - es war effektiv zu kalt und diejenigen, die müßig in Gruppen frierend herumstanden, waren durchwegs sehr ärmlich gekleidet. Die Kinder, die man aus Hauseingängen heraus-und wieder hineinhüpfen sah, waren sogar oft barfuß. Chastity war so entsetzt, dass sie schier die eisigen Pflastersteine an den eigenen Füßen zu spüren vermeinte. Dennoch folgte sie unbeirrt der unverwechselbaren Gestalt des Arztes, der ohne einen Blick nach rechts oder links zielstrebig ausschritt.
»He, Lady, Lady ... 'nen Penny, Lady ... ha'm Sie 'nen Penny?« Das Entsetzen über das Elend um sie herum hatte sie so beansprucht, dass ihr die im Singsang vorgebrachte Frage nicht gleich bewusst wurde. Sie stoppte und drehte den Kopf zur Seite. Eine Gruppe zerlumpter Jugendlicher grinste sie dreist mit ausgestreckten Händen an.
Sie tastete in ihren Taschen unauffällig nach ihrer Münzenbörse und fischte ein paar Pennys heraus, während tief liegende Augen aus schmalen Gesichtern auf sie gerichtet waren und jede Bewegung verfolgten. Die Gruppe rückte näher, als die Münzen in ihrer Hand sichtbar wurden. Die Blicke bekamen etwas Raubtierhaftes. Plötzlich fühlte Chastity sich gefährdet. Ihr Impuls, Farrell zu folgen, war töricht gewesen, doch war es jetzt zu spät zur Umkehr, selbst wenn sie den Weg zurück auf
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