Im Bann Der Herzen
gegen die Kälte enger um sich zog. Die elektrische Straßenbeleuchtung brannte schon, helle weiße Kreise schimmerten auf den Pflastersteinen. Ein Licht, das viel weniger freundlich wirkte als der goldene Schein der Gaslaternen, überlegte Chastity, als sie den Kutscher begrüßte und in den Wagen einstieg.
»Meine Schwester sagte, Sie wollen sich im nächsten Jahr zur Ruhe setzen, Cobham«, sagte sie und zog die Wagendecke über die Knie.
»Ja, Miss Chas. Wird auch Zeit, dass man sich aufs Ausgedinge zurückzieht«, sagte er und trieb die Pferde mit einem Pfiff durch die Zähne an. »Es ist ein hübsches kleines Häuschen, das Miss Prue ... Lady Malvern ... uns anbot. Meine Frau ist vor Freude außer sich. Und dazu der schöne Gemüsegarten ... Wir werden glücklich wie die Schneekönige sein.«
»Davon bin ich überzeugt«, pflichtete Chastity ihm bei und kuschelte sich unter die Decke, bis sie vor dem Domizil der Malverns am Pall Mall Place vorfuhren.
Hewlett-Packard
2
»Hallo, Tante Chas.«
»Hallo, Sarah.« Chastity begrüßte die elfjährige Stieftochter ihrer Schwester mit einem Kuss. »Wie ist die Schule?«
»Langweilig«, antwortete das Mädchen mit übertrieben blasiertem Seufzen. »Fürchterlich langweilig.«
Chastity lachte. »Sarah, das glaube ich dir nicht.«
Sarah erwiderte das Lachen. »Na ja, es gibt ein paar Dinge, die ich mag, aber man muss sagen, dass sie langweilig ist, sonst glauben die Leute, es stimmt mit einem etwas nicht.«
Chastity nahm ganz richtig an, dass die fraglichen Leute Sarahs Mitschülerinnen waren. »Das kann ich verstehen«, sagte sie mitfühlend. »Aber es muss schwierig sein zu tun, als würde man sich langweilen, wenn es gar nicht stimmt.«
»Ach, ich bin eine gute Schauspielerin«, sagte Sarah vergnügt. »Ist dies das Kleid, das du heute tragen wirst? Lass mich deine Tasche tragen.«
»Ja, das ist es, und vielen Dank.« Chastity überließ ihre Sachen der eifrigen Kleinen. »Ist Prue oben?«
»Ja, und Daddy ist noch in seinem Büro. Beim Frühstück zankten sie sich, deshalb wird er sicher im allerletzten Moment nach Hause kommen«, vertraute das Mädchen ihr an, völlig unbekümmert wegen dieses nicht seltenen Vorfalls im Hause Malvern.
»Und worum ging es bei dem Streit?« Chastity folgte Sarah durch den schmalen Gang zur Treppe.
»Es hat etwas mit einem Fall zu tun, den Daddy annimmt und von dem Prue glaubt, er solle es nicht tun. Alles habe ich nicht verstanden. Es ging um einen Mann, der für ein Kind nicht zahlen will.« Sarah hüpfte die Stufen hinauf voraus.
Chastity nickte stumm. Wenn Prudence etwas missbilligte, konnte man darauf bauen, dass sie es zum Ausdruck brachte. Und bei Gideon konnte man damit rechnen, dass er ihr riet, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Beide brausten leicht auf.
»Soll ich deine Sachen ins Gästezimmer bringen? Prue ist in ihrem Salon.« Sarah blieb vor einer geschlossenen Tür am oberen Treppenabsatz stehen.
»Ja, danke, Sarah. Ich möchte Prue rasch begrüßen.« Sie lächelte und eilte den Gang entlang zu einer Doppeltür am Ende. Auf ihr leichtes Pochen hin wurde die Tür geöffnet, und Prudence empfing sie mit einer Umarmung.
»Ach, wie bin ich froh, dass du da bist«, sagte sie und zog ihre Schwester in ein hübsches, quadratisches Wohnzimmer, an das sich das große gemeinsame Schlafzimmer der Eheleute anschloss. »Ich bin auf Gideon schlecht zu sprechen.«
»Ja, Sarah deutete so etwas an.« Chastity knöpfte ihren Mantel auf. In ihrer Rolle als ewige Friedensstifterin war sie bereit, sich die Meinung ihrer Schwester anzuhören. »Es ging um einen Mann, der für ein Kind nicht zahlen will.«
»Manchmal glaube ich, Sarah bekommt mehr mit, als sie sollte«, sagte Prudence mit reuigem Schnauben und rückte ihre Brille auf der Nase zurecht. »Ich frage mich, ob wir vor ihr nicht zu offen reden.«
»Sie ist viel zu intelligent, um es falsch aufzufassen«, beruhigte Chastity sie. »Und sie scheut sich nicht zu fragen, wenn sie etwas nicht begreift.«
Prudence lächelte. »Nein, da hast du wie üblich Recht. Gideon ging mit ihr stets sehr offen um, deshalb wäre es nicht gut, dies zu ändern, nur weil ich auf der Szene auftauchte.«
»Genau«, stimmte ihre Schwester zu und legte ihren Mantel über die Lehne eines mit Gobelinstoff bezogenen Stuhles. »Also, berichte, was sich zugetragen hat.«
Prudence füllte zwei Gläser aus einer Sherrykaraffe auf einem Konsolentisch zwischen den zwei hohen
Weitere Kostenlose Bücher