Im Bann der Leidenschaften
Ausnahmezustand. Seit der süße Philippe im Hotel ihrer Eltern aufgetaucht ist, gleicht ihr Leben einer Achterbahnfahrt.“
„Auf und ab?“ Wieder erklingt Mels Kichern. Plötzlich ist es unterbrochen von vielen, kleinen Hicks.
Mel hat eindeutig zu viel getrunken. So wie wir alle. Anscheinend befinden wir uns in einem gemeinschaftlichen Ausnahmezustand. Ich allerdings bin seit einiger Zeit stocknüchtern, und, entgegen Janes Diagnose, hellwach. Zu wach, für meine Begriffe. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich gern ins Koma fallen. Alternativ dazu könnte ich mich mit einer partiellen Amnesie anfreunden.
Mary-Beth stöhnt auf. Sie ist so genervt von Mel wie ich von mir selbst, und wendet sich mit ihrer Frage direkt an Jane. „Was meinst du mit Achterbahnfahrt? Auf mich macht Annie einen sehr glücklichen Eindruck. Oder sprichst du vom Rausch der Hormone? Oder weißt du mehr als ich?“
„Ach was! Alles ganz normal. Erst diese überraschende große Liebe“, setzt Jane zu einem ihrer psychologischen Gutachten an, „dann der Umzug in ein fremdes Land, komplett andere Lebensumstände. Ihre Eltern und all ihre Freunde sind plötzlich weit weg. Es gehört weit weniger dazu, um vor einer Hochzeit durchzudrehen. Bei mir war es zwar anders, aber den meisten Menschen kommen kurz vor der Hochzeit Zweifel. Sie fragen sich: Ist das, was ich tue, das Richtige? Binde ich mich an den passenden Partner? Werden wir auch in zehn oder zwanzig Jahren glücklich sein?“
„Amen“, tönt Mel. „Hicks.“
Mary-Beth ignoriert die betrunkene Meerjungfrau. „Glaubst du wirklich“, fragt sie Jane, „dass Annie befürchtet, irgendwo auf der Welt wartet jemand besseres auf sie. Ein besserer Mann als Philippe? Wenn sie das glaubt, dann ist sie wahnsinnig! Aber total! Das muss man sich mal vorstellen. Sie sagt: Ja, ich will, läuft um die nächste Ecke, und wer steht da? Nicht nur die große Liebe, sondern die einzig wahre große Liebe. Das kann sie nicht glauben! So blöd ist Annie nicht.“
„Nicht wirklich“, führt Jane ihre psychologischen Betrachtungen fort. „Es ist ja auch alles bloß rein hypothetisch. Nichts, was man wirklich ernst nehmen müsste. Pure Auswüchse der Phantasie. Möglicherweise nur unterbewusst. Sie spricht nicht einmal darüber.“
„Vielleicht spricht sie nicht, weil bisher die Zeit fehlte“, wendet Mary-Beth ein.
„Wir waren, hicks, zwei Stunden in diesem sauteuren Gänserestaurant“, hickst Mel. „Das ist mehr als genug Zeit, um Zukunftsängste vor uns auszubreiten.“
Wieder überhört Jane unsere Freundin Mel. „Stimmt. Die Zeit war knapp. Wir sind erst vor etwas mehr als zwölf Stunden hier eingetrudelt und sind seitdem pausenlos unterwegs. Aber irgendwas stimmt trotzdem nicht. Oder warum, glaubst du, war Annie den ganzen Abend so komisch? Um nicht zu sagen, eine Spaßbremse. Wenn sie gelacht hat, kam es mir vor, als fletscht ein Hund die Zähne. Ich versichere dir: Das ist die Panik vor dem großen Schritt in eine unbekannte Zukunft. Die Panik vor dem großen Unbekannten.“
Panik vor dem großen Unbekannten … Wenn Jane wüsste, wie recht sie hat … Nur dass es sich bei dem großen Unbekannten um einen sehr hochgewachsenen Mann handelt, der vielleicht ein Stalker ist. Mein Stalker, der mich innerhalb weniger Minuten zum Orgasmus gebracht hat, ohne wirklich Sex mit mir zu haben. Oder zählt das, was in der Lounge gelaufen ist, als richtiger Sex? Richtiger Sex ist für mich, wenn zwei nackte Menschen Körperflüssigkeiten austauschen. Also war das, was Jerôme mit mir gemacht hat, kein richtiger Sex. Aber was zum Teufel war es, wenn es kein Sex war? Ich bin weit davon entfernt, einen klaren Gedanken zu fassen.
Das Taxi fährt um eine Kurve und wird langsamer. Ich räkele mich demonstrativ und öffne die Augen. Wir sind da. Zuhause. Endlich! Jetzt eine schöne warme Dusche und dann ins Bett. Schlafen und vergessen. Der Taxifahrer parkt mitten auf der Straße vor meinem Pariser Zuhause. In dieser Gegend ist nachts genau so wenig los wie in dem Kaff, aus dem ich stamme.
„Wer hat Panik?“, frage ich scheinheilig.
„Du“, antwortet Mel ohne zu zögern. Der alberne Unterton aus ihrer Stimme ist verschwunden. Der Schluckauf ebenfalls. „Oder was hast du vorhin mit dem Kerl in der Lederjacke getrieben?“
„Mit welchem Kerl in der Lederjacke?“ Ich fahre die breite Schiebetür des Taxis nach hinten und quäle das Dornröschenkleid und mich an die frische Luft. Der
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