Im Bann der Leidenschaften
Regen prasselt auf mich herab. Sofort muss ich an die vormittägliche Dusche mit Philippe denken, und die Traurigkeit, die seit der Sache im Club von mir Besitz ergriffen hat, steigert sich noch. So schnell es mir in meinem Outfit möglich ist, laufe ich zur Haustür, eile die fünf Treppenstufen bis zur Eingangstür hoch und klatsche meine Hand auf die Concierge-Klingel. Die Türe öffnet sich mit dem inzwischen so vertrauten leisen Summen. Es ist praktisch, wenn man keinen Haustürschlüssel mit sich herumtragen muss.
Mel befindet sich bereits hinter mir. Durch die Regenluft rieche ich ihre Alkoholfahne.
„Wir zwei waren auf der Tanzfläche. Plötzlich hast du dich umgedreht und bist zu einem sehr großen, sehr gut gebauten, teuflisch gut aussehenden Mann in schwarzer Lederjacke gegangen. Seltsamerweise trug er eine Sonnenbrille. Erinnerst du dich?“
Ich lehne an der geöffneten Haustür und tue so, als ob ich mir den Kopf nach Jane und Mary-Beth verrenke. Mels bohrenden Blick ignoriere ich. „Und?“
„Ihr habt euch unterhalten, Annie.“
„Ach, den meinst du. Wir haben ein paar Worte gewechselt. Eine Unterhaltung ist was anderes“, murmele ich. Ich kann Mel nicht in die Augen sehen. Jane und Mary-Beth sind im Anmarsch. „Schnell ins Trockene mit euch!“, rufe ich den beiden betont munter zu. Als sie das Haus betreten, laufe ich zu dem Kabuff, in dem der Concierge sitzt. Pierre, der Nacht-Concierge, nickt mir über seinem Kreuzworträtsel hinweg zu und reicht mir den Wohnungsschlüssel.
„Danke, Pierre. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
„Ihnen und Ihren Freundinnen ebenfalls eine geruhsame Nacht, Madame Salinger.“ Pierre widmet sich wieder seinem Zeitvertreib.
Der Aufzug ist da und ich schiebe das Gitter auf.
„Du weichst mir aus“, drängt Mel.
„Was ist denn hier los?“ Mary-Beth betrachtet Mel und mich neugierig.
„Ab mit euch in den Aufzug“, treibe ich meine Freundinnen an. „Ich glaube, wir sind durch.“
„Ach was“, grinst Jane. „Ich dachte, wir nehmen oben in deiner Luxushütte noch einen Absacker und bringen unseren Mädelsabend zu einem gebührenden Ende.“
Gott sei Dank reagiert niemand auf Janes Einwand. Der Aufzug rasselt los. Doch die Gefahr ist noch nicht vorüber.
„Im Club hat Annie sich mit einem Mann unterhalten“, informiert Mel Jane und Mary-Beth, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Sehr groß, dunkle Haare, dunkler Hauttyp, schwarze Lederjacke, Sonnenbrille. Sehr, sehr, sehr gutaussehend. Und genauso unheimlich. Der Typ Mann, vor dem wir Frauen uns hüten sollten.“
„Du scheinst einschlägige Erfahrungen gesammelt zu haben.“ Ich verdrehe die Augen, fühle mich aber gleichzeitig mies, weil ich meine Freundin lächerlich mache, obwohl ich selbst die Übeltäterin bin.
Mary-Beth zieht die Augenbrauen in die Höhe. Bezeichnenderweise sieht sie nicht zu Mel, sondern zu mir. Ebenso Jane. In ihren Augen stehen riesige Fragezeichen.
„Keine Ahnung, was Mel gesehen hat“, entgegne ich betont lässig. Das entspricht sogar der Wahrheit. Aber ich wüsste zu gern, inwieweit meine Freundin über mich im Bilde ist. Der Aufzug hält, ich reiße die Tür auf und laufe über den Flur, um die Wohnung aufzuschließen. Im Grunde kann ich ganz ruhig sein, denn falls Mel mich im Clinch mit dem Lederjackenmann beobachtet hat, wird sie es wohl kaum bei der ersten Gelegenheit Philippe auf die Nase binden. Sofern sie das vorhat, wird sie damit ohnehin bis morgen Nacht warten müssen, denn dann erst kehrt mein Bräutigam zurück. Mein Bräutigam. Ist er das noch? Bin ich noch seine Braut?
Der Schlüssel klemmt. Obwohl Philippe für die Wohnung zwei Millionen auf den Tisch geblättert hat und die Unterhaltung ebenfalls ein Vermögen kostet, klemmt und quietscht es in dem Luxusschuppen an allen Ecken und Kanten. Ungehalten rappele ich mit dem Schlüssel herum.
„Ist die mies drauf“, stöhnt Mel.
Die Tür springt auf. Ich versuche ein Lächeln. Jane, Mary-Beth und Mel spazieren durch die Tür, die ich weit aufhalte. Momentan ist mir jede Sekunde in Gesellschaft zu viel. Ich bin mir selbst zu viel.
„Wer war der Typ?“, zischt mir Mel im Vorübergehen zu.
Ich schließe die Tür. „Keine Ahnung“, zische ich zurück. „Was soll das Verhör? Habe ich vielleicht etwas Verbotenes getan. Oder darf ich mich ab sofort mit keinem Mann mehr unterhalten?“ Unterhalten? Wenn so in Zukunft alle meine Unterhaltungen mit Männern ablaufen …
Jane und Mary-Beth
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