Im Bann der Lilie (Complete Edition)
allein vor dem Lagerfeuer und starrte gedankenvoll in die Flammen. Nur wenige Besucher hatte die Vorstellung heute angezogen. Die wenigen Münzen reichten gerade für Brot und Käse. Paris war keine gute Stadt für die Gaukler. Die Leute waren noch satt von den Vergnügungen der morgendlichen Hinrichtungen. Die waren schließlich kostenlos! Marcel hoffte, dass sie bald weiterziehen würden. Der Wald hatte sie bestens mit Nahrung versorgt. Hier in der Stadt war die Versorgung mühsamer, vor allem für ihn. Das letzte Tierblut hatte er vor zwei Tagen getrunken.
Sein Instinkt ließ ihn ruhelos durch die einsamen Gassen streifen. Die grimmige Kälte störte ihn nicht. Das Kopfsteinpflaster war mörderisch glatt, aber auch das war für ihn kein Problem. Seine fast gleitenden Schritte waren nur für die feinen Ohren der Tiere zu vernehmen. Deshalb kläffte ihn auch einer der zotteligen Straßenköter beim Näherkommen an und drückte sich furchtsam in eine Hausecke, wo er sein Lager auf alten Lumpen gefunden hatte. Er hätte besser weglaufen sollen! Einige Minuten später wischte sich Marcel mit seinem Ärmel die Lippen ab. Er wusste: Das Blut des Hundes würde nicht lange vorhalten. Ob er sich noch so eine arme Kreatur suchen sollte? Fast schämte er sich für das, was er da tat. Er zögerte kurz und überlegte, ob er diese erniedrigende Jagd fortsetzen sollte. Plötzlich war ihm, als würde er ein leises Lachen in seinen Gedanken hören und das Gefühl, nicht mehr allein zu sein in dieser stockdunklen Nacht, traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube. Er fuhr herum. Ein weiterer Vampir musste in der Nähe sein.
„Hier oben, mein Freund“, forderte ihn ein Flüstern in seinem Kopf auf, den Blick über die Dächer der gedrungenen Häuser schweifen zu lassen, die sich dicht an dicht reihten, als wollten sie ebenfalls vor der Kälte Schutz suchen. Der große Schatten hob sich deutlich gegen den klaren Nachthimmel ab. Sekundenbruchteile später stand der gleiche Schatten vor ihm und schob die Kapuze seines Umhanges zurück. Marcel sah in das Gesicht des Marquis, der ihn wohlwollend und dennoch abschätzend betrachtete. Ein Blick, den er früher beim Kauf eines rassigen Pferdes an den Tag gelegt hatte.
„Das da habe ich nicht mit Überfluss gemeint“, sagte er und deutete auf den Kadaver des Hundes in der Ecke. „Kommt mit, es wird Zeit, dass Ihr Eurer wahren Bestimmung folgt!“
Sein Tonfall war immer noch der eines Aristokraten, der keinen Widerspruch duldete. Auf der einen Seite war Marcel froh, seinen Gönner wieder zu sehen, aber andererseits spürte er auch, dass dieser nicht mehr die Gelassenheit des adeligen Landbesitzers ausstrahlte, sondern eher eine unheilvolle Macht. Eine Macht, die auch Marcel selbst inne wohnte und die er bislang immer im Zaum gehalten hatte.
Julien führte ihn in ein einfaches, gutbürgerliches Haus, in dem es angenehm warm war.
„Verbessert habt Ihr Euch aber auch nicht“, dachte Marcel mit einer Portion Zynismus, als er sich dort umsah.
Das hier war kein Vergleich mehr mit dem hochherrschaftlichen Anwesen, das der Marquis jahrhundertelang bewohnt hatte. Dienstboten gab es hier nicht. Julien warf ihm einen warnenden Blick zu, sagte aber nichts. Er hatte den Umhang abgelegt und es sich vor dem Kamin des Wohnraumes gemütlich gemacht.
„Die Zeit der adeligen Überheblichkeit ist endgültig vorbei“, stellte der Marquis dabei fest und blickte mit dem gleichen verlorenen Blick in die Flammen, wie Marcel ihn von Lucia her kannte. „Der König ist zum Tode verurteilt worden. Seine Familie wird ihm mit Sicherheit auf das Schafott folgen müssen. Wir könnten ihnen einen letzten Dienst erweisen“, schlug Julien weiter vor.
Das klang so nüchtern und sachlich, als wolle er seinem Mündel einen Theaterbesuch vorschlagen. Marcel starrte ihn ratlos an. Jetzt blickte der Marquis zu ihm hoch. Seine blauen Augen durchdrangen Marcels Gedanken.
„Oder wollt Ihr Euch den Rest Eures ewigen Lebens von räudigen Kötern ernähren?“
Marcel wollte auf diese herausfordernde Bemerkung etwas erwidern, schwieg aber dann doch.
„Ich habe Euch nicht zu meinem Mündel und Freund gemacht, damit Ihr Euch mit zwielichtigen Schaustellern und Zigeunern herumtreibt. Dieses Gesindel ist Eurer nicht würdig!“
Jetzt begriff der junge Mann. In Juliens Stimme schwang ein Anflug von Eifersucht, den er deutlich heraushören konnte! Der Marquis hatte in seinen Gedanken gesehen, dass er seine Zeit mit
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