Im Bann der Lilie (Complete Edition)
die Suche aufzugeben. Aber ich kenne dich, mein Kind. Du wirst diese letzte Nacht morgen bestimmt nicht untätig herumsitzen.“
Graziella schnäuzte sich in ihr Taschentuch und nickte, immer noch mit Tränen in den Augen. Dann gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und erhob sich.
„Gute Nacht, Mama.“
„Gute Nacht, mein Kind.“
Lucia seufzte und blickte wieder in das Feuer, dass sie nun erneut schürte.
Man hatte den König und seine Frau Marie Antoinette nicht, wie die anderen Aristokraten, in eines dieser schmutzigen und rattenverseuchten Kerkerlöcher gesperrt, sondern hielt sie in ihrem eigenen Hause gefangen, allerdings getrennt voneinander. Die Hinrichtung des Monarchen war für morgen früh festgesetzt worden. Auch ihn sprach man nicht mehr mit „Sire“, sondern nunmehr mit „Bürger“ an. Was mit der Königin geschehen sollte, hatten der Revolutionsführer Robespierre und sein Parlament noch nicht entschieden. Doch auch das schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Marie Antoinette hatte sich in den Glauben geflüchtet und betete Tag und Nacht, nunmehr in einem einfachen Gewand und ganz und gar nicht mehr in prunkvoller Robe.
Der König hatte gerade seine Henkersmahlzeit zu sich genommen und erwartete nun den obligatorischen Besuch des Medicus, der ihn für die bevorstehende Hinrichtung begutachten sollte. Er lief unruhig auf und ab, als sich der Schlüssel im Schloss herumdrehte und die beiden Wachen draußen vor der Flügeltüre die beiden Männer in schwarzen Umhängen einließen. Einer von ihnen trug einen Arztkoffer bei sich.
Louis XVI. würdigte die Eintretenden keines Blickes. Er stand blass und hoch aufgerichtet an dem bogenförmigen, mannshohen Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus, wo im Schlossgarten die Lagerfeuer der Bürgerwehr brannten. Ehemalige Soldaten hatten das Kommando über die bewaffneten Zivilisten übernommen. Dort draußen feierte man bereits das Ende der Monarchie. Das Antlitz des Königs von Frankreich zeigte keinerlei Emotionen. Er wollte diesem Pöbel keinen Grund zu Spottliedern bieten.
„Monsieur le Docteur, ich erfreue mich bester Gesundheit und bin bereit, im Morgengrauen vor das Antlitz meines Schöpfers zu treten“, sagte er mit fester Stimme. Das Fenster spiegelte undeutlich die Umrisse der beiden dunkel gekleideten Gestalten hinter ihm.
Keine Antwort.
Erst als der Ältere seiner Besucher ihn mit „Sire“ ansprach und eine Verbeugung andeutete, wandte Louis sich erstaunt um. Hatten sich Königstreue hier eingeschlichen? Auch der Jüngere der beiden hatte nun die Kapuze des Umhangs abgenommen und neigte ehrerbietig den Kopf. Langsam trat der Marquis de Montespan näher, neigte seinen Kopf, so dass sein Mund nah an das Ohr des Königs kam und unterbreitete ihm das gleiche Angebot, wie allen Verurteilten. Marcel stand stumm daneben und hörte mit seinen feinen Sinnen alles mit. Waren sie beide wirklich Engel der Erlösung? Hatte er in den letzten Tagen nicht soviel mehr Grausamkeiten von den Menschen gesehen und erlebt, als der Fluch für seinesgleichen, sich von Blut zu nähren, wog? Irgendwie gefiel ihm dieser Gedanke. Er machte es ihm leichter, seine Existenz anzunehmen. Gleichzeitig bereiteten die Menschen den Acker für die Ernte der dunklen Engel.
„Es ist eine Art Symbiose“, fuhr es Marcel durch den Kopf.
„Vielleicht könnte man aus dieser Tatsache sogar Profit schlagen?“, tauchte eine wahnwitzige Idee bei dieser Erkenntnis in Marcel auf. Doch er verwarf diese wieder. Julien wäre sicher davon entzückt gewesen.
Der Regent von Frankreich ging wie alle Todgeweihten und Hoffnungslosen auf das Angebot des Marquis ein, und Julien begann sein Werk, das in wenigen Stunden von der Guillotine vollendet werden würde. Fast teilnahmslos sah Marcel dabei zu. Wie hatte ihm sein Freund und Gönner noch vor kurzem erklärt:
„Vor dem Angesicht des Todes sind sie alle gleich.“
Als sie den König verließen und mit wehenden Umhängen durch das von der Miliz besetzte und bereits verwahrloste Palais dem Ausgang zugingen, fragte Marcel den Marquis: „Warum besuchen wir nicht auch die Königin?“
De Montespan schnaubte verächtlich. Die zügigen Schritte ihrer Stiefel hallten von den hohen Wänden wider.
„Die kleine Heuchlerin wähnt ihr Seelenheil in den Händen des Herren“, meinte er.
„Und was ist falsch daran?“
„Eigentlich nichts. Aber was, glaubt Ihr, wird sie tun, wenn wir uns ihr als Kreaturen der Verdammnis
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