Im Bann der Lilie (Complete Edition)
einer Frau verbracht hatte, die nicht einmal seines Standes war. Schlimmer, dass es überhaupt eine Frau war.
„Sie haben mich beschützt“, sagte der junge Mann leise, als wolle er sich rechtfertigen.
Julien lachte mitleidig auf. „Ach, soll etwa das heißen, dass Ihr einen Beschützer braucht?“
Spott und eine Spur Verachtung spiegelten sich in diesem Satz. Marcel fühlte, wie kalter Zorn in ihm aufstieg. Sah der Marquis immer noch einen kleinen Jungen in ihm? Seine schwarzen Augen begannen zu glühen. Am liebsten wäre er ihm an die Kehle gesprungen.
Julien bemerkte es voller Genugtuung. Er breitete die Arme aus.
„Na los, komm schon, greif mich an!“, lachte er spöttisch. Doch seine Kälte war nur gespielt. Innerlich verlangte es ihm danach, den Jungen wieder in seinen Armen zu halten! Und dieses unerfüllte Verlangen löste ein schmerzliches Ziehen in seinen Lenden aus.
Die Glut in Marcels Augen erlosch. Er hatte diesem Mann zuviel zu verdanken! Außerdem würde er gegenüber dem viel älteren Vampir sowieso den Kürzeren ziehen. Stattdessen setzte er sich in den Sessel gegenüber und begann nun seinerseits, in das Feuer zu starren, als könne er darin seine Zukunft erkennen.
Es war Julien, der erneut das Wort ergriff.
„Von nun an werdet Ihr mich als mein Gehilfe zu den adeligen Gefangenen begleiten.“
„Als Euer Gehilfe?“
In diesem Augenblick dachte Marcel an einen kapuzenbewehrten Henker, worauf Julien in ein lautes Lachen ausbrach.
„Nicht diese Art von Gehilfe! Es ist mir gelungen, mich unerkannt den Revolutionären anzuschließen und dank meiner Heilkunst als Gefängnisarzt tätig zu sein. Auf diese Weise werden wir gemeinsam zum König gelangen.“
„Aber davon verstehe ich überhaupt nichts“, warf Marcel ein.
Der Marquis winkte besänftigend ab.
„Das ist auch nicht nötig. Ich werde Euch einige grundlegende Dinge wie das Anlegen von Verbänden und die Grundsätze der Wundbehandlung beibringen. Mehr wird gar nicht nötig sein.“
„Wer von diesen sensiblen Adeligen die Folter überlebt, ist sowieso froh, endlich dem Henker zu begegnen“, dachte Julien.
Die ängstlichen Augen, die ihn in den Zellen anstarrten, besaßen immer den gleichen Ausdruck. Dieser änderte sich erst durch sein Zutun. Er fragte sich, ob dieser Junge jemals genug Gefühlskälte besitzen würde, um in erster Linie an sich selbst zu denken und seinen Vorteil zu suchen. Ihn reizte der Gedanke, nicht nur die schönen Körper des Jungen, auch die noch unberührte, sanftmütige Seele zu wandeln. Julien de Montespan konnte auf seine Weise ein Teufel sein.
Während das Volk auf die Hinrichtung des Königs wartete, zog Graziella immer wieder unruhig durch die Straßen und Gassen von Paris. Seit drei Tagen hatte sie nichts mehr von Marcel gesehen oder gehört. Ihre Mutter war besorgt. Sie sah es gar nicht gerne, dass ihre Tochter allein loszog, obwohl sie wusste, dass diese nicht unbewaffnet war. Ein Stilett steckte in einer Halterung in ihrem Strumpfband und sie wusste damit umzugehen.
Als die Greisin eines Nachts wieder einmal allein die Hüterin des Feuers war, setzte Graziella sich zu ihr. Sie konnte nicht schlafen, und ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um den schönen dämonischen Engel, der sie so lange begleitet hatte. Zugegeben, sie hatte die Gefahr genossen, mit einem Vampir zusammen zu sein. Ihr wildes Blut fühlte sich mit ihm verbunden, und vielleicht hatte sie auch insgeheim den Wunsch gehegt, dass er sie mit in seine dunkle Welt entführen möge. Wie viel sie ihm wohl tatsächlich bedeutet hatte?
„Lass ihn ziehen“, riet die Mutter ihr und warf noch ein Holzscheit in die Glut. Im Schein des Feuers konnte sie die Tränen in den Augen ihrer hübschen Tochter glitzern sehen. Beruhigend legte sie ihre faltige, alte Hand auf Graziellas Knie.
„Die Kinder der Nacht sind nicht für die Herzen der Menschen gemacht“, sinnierte sie dabei leise.
Ein Schluchzen war die einzige Antwort.
„Selbst, wenn wir einen von ihnen ewig lieben, so können wir die Ewigkeit doch nicht mit ihnen teilen, wenn sie uns nicht wandeln. Und wenn unser junger Freund das gewollt hätte, hätte er es getan! Wir beide sind und bleiben Sterbliche“, fuhr sie fuhr.
Das Schluchzen wurde lauter.
„Nach der Hinrichtung des Königs werden wir unverzüglich aufbrechen. Keiner weiß, wie es danach weiter gehen wird. Diese Stadt ist ein Pulverfass. Es riecht überall nach Verrat und Blut. Ich würde dir ja raten,
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