Im Bann der Lilie (Complete Edition)
offenbaren? Vermutlich schreit sie das ganze Schloss zusammen! Abgesehen davon steht der Termin für ihre Hinrichtung noch gar nicht fest. Wenn es soweit ist, könnt Ihr das Risiko gerne eingehen.“
An erster Stelle stand also immer noch ihre eigene Sicherheit. Ganz so selbstlos war das Tun der Erlöser also nicht! Der Anflug eines Lächelns umspielte den Mund des jungen Vampirs. Natürlich würde Marcel sich nicht selbst gefährden. Es kam anscheinend ganz darauf an, wie der seelische und geistige Zustand des Menschen war, bevor man einen solchen Handel mit ihm machte. Der Schützling des Marquis lernte von Tag zu Tag mehr dazu.
Mittlerweile hatten sie das palastähnliche Anwesen verlassen und stiegen auf die wartenden Pferde, die sie zurück in die Stadt brachten. Morgen – zur Hinrichtung des Monarchen – würde hier der Teufel los sein. Für einen kurzen Augenblick kam Marcel der Zirkus in den Sinn. Er versuchte, sich Graziellas Antlitz vor Augen zu holen, aber es war seltsam verblasst, nur noch eine Erinnerung. Wie es wohl Lucia und den anderen erging? Würde das Geld zum Leben reichen?
Julien warf dem jungen Mann neben ihm einen Seitenblick zu, während sie im Schritt über das Kopfsteinpflaster ritten. Hatte er diesen Gedanken aufgefangen? Meldete sich da wieder seine Eifersucht?
Sie brachten die Pferde zurück in den Mietstall und gingen den kurzen Weg zu Fuß in das kleine Haus, das sie inzwischen gemeinsam bewohnten. Jeder hing dabei seinen eigenen Gedanken nach. Inzwischen hatte ein leichter Schneefall eingesetzt.
Während des folgenden Tages schliefen die beiden Vampire einen unruhigen Schlaf. Nach der Hinrichtung des Monarchen zog ein Teil der Bevölkerung johlend und trinkend durch Paris, während der andere eher gedrückter Stimmung war. Niemand wusste, was nun kommen würde. Die alten Werte starben, und die Menschen waren verunsichert. Auch die Königin würde in einigen Monaten ihrem Gatten auf das Schafott folgen. Viele Einwohner von Paris hielten Fensterläden und Türen verschlossen, verließen das Haus nur, um die nötigsten Besorgungen zu machen. Man wagte kaum noch, laut seine Meinung zu sagen, und so wurde nur noch hinter vorgehaltener Hand getuschelt.
Mit Einbruch der Dämmerung war es noch gefährlicher, auf die Straße zu gehen. Graziella dagegen wollte diese letzte Gelegenheit vor ihrer Abreise aus Paris noch einmal nutzen, um Marcel zu finden und sich wenigstens von ihm verabschieden zu können. Mittlerweile ahnte sie, dass er nicht zurückkehren wollte, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Sonst hätte er sich bestimmt längst gemeldet. Oder sollte er etwa …? Diesen Gedanken wollte die schöne Zigeunerin lieber nicht zu Ende denken. Sie trug einen ärmlichen, geflickten Umhang und hatte das wollene Schultertuch um den Kopf gezogen. In leicht gebeugter Haltung schlich sie durch die Gassen, so dass sie von weitem wie eine alte Frau wirken musste. Sie wollte kein Aufsehen erregen.
Aus einer der schäbigen Spelunken torkelten gerade zwei Betrunkene, der eine noch mit der halbvollen Weinflasche in der Hand und liefen der Zigeunerin fast genau in die Arme. Sie mussten sich gegenseitig stützen und sangen zweideutige Lieder. Die beiden ungepflegten Männer mittleren Alters stanken nicht nur nach Alkohol, als sie sie anrempelten. Graziella verzog angewidert das Gesicht und hob abwehrend die Hand. Mit der anderen Hand zog sie das Tuch noch tiefer über den Kopf.
„Pardon, Mütterchen“, lallte der eine und „Es lebe die Revolution!“, krächzte der andere.
Beide fielen in ein heiseres Lachen. Graziella wollte sich an ihnen vorbei stehlen, doch einer von ihnen hielt sie am Arm fest.
„Komm, feier doch ein bisschen mit uns!“, forderte er sie mit weinerlicher Stimme auf.
Graziella schüttelte stumm den Kopf und wollte sich losreißen. Dabei fiel ihr Tuch zu Boden und die Betrunkenen erkannten darunter eine rassige, junge Frau. Der eine von ihnen stieß einen misslungen Pfiff aus, der wohl nach Bewunderung hatte klingen sollen.
„S … s … sieh mal an, was kommt da für ein hübsches Täubchen zum Vorschein“, kicherte der andere und wollte mit seiner schmutzigen Hand über Graziellas Wange streicheln.
Sie schlug die Hand empört weg.
„Haut ab, ihr besoffenen Schweine“, zischte sie wütend und versuchte erneut, sich an den Männern vorbei zu schlängeln. Doch der Abgewiesene wurde jetzt wütend und drängte sie mit seinem massigen Körper an die
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