Im Bann der Lilie (Complete Edition)
machte aus seiner Eifersucht auch keinen Hehl. Als seine Schwester Angela wegen eines Fiebers in Marseille nicht auftreten konnte, fragte er Marcel, ob dieser einspringen könnte, da ansonsten die Nummer ausfallen müsste. Graziella warf ihrem Freund einen warnenden Blick zu und schüttelte unmerklich den Kopf, was soviel heißen sollte wie „Tu es nicht!“
Aber der junge Chevalier wollte nicht als Feigling gelten und stimmte zu. Er ließ sich also auf das blaugelbe Rad fesseln, auf welches Giovanni die Messer werfen würde. Ein falscher Wurf und auch der junge Vampir wäre nicht mehr zu retten gewesen! Bevor der Messerwerfer in die provisorische Manege aus Strohballen trat, zog ihn Graziella beiseite.
„Wenn du es wagst, ihm auch nur ein Haar zu krümmen, dann fällt deine Nummer für immer aus“, zischte sie.
Diese Worte wurden untermauert durch den Dolch, den sie ihm an die empfindlichste Stelle unterhalb der Gürtellinie hielt.
Giovanni wurde blass.
„Schon gut, schon gut, ich werde dem Kleinen keinen Kratzer zufügen, versprochen!“, beschwichtigte er die temperamentvolle Frau.
Er musste einsehen, dass er auf alle Fälle den Kürzeren ziehen würde, sollte er Marcel verletzen. Nichts war so zu fürchten für einen Mann wie eine rachsüchtige Zigeunerin. Von diesem Tage an fand er sich damit ab, dass er Graziellas Liebe wohl niemals erringen würde und ging ihr und ihrem Liebhaber aus dem Weg, so gut dies möglich war.
Leider hält das Glück nie lange vor, weder für die Menschen noch für die Geschöpfe der Nacht. Im Winter 1792 erreichte die kleine Truppe Paris. Bei ihrer Ankunft rollten die Wagen durch schmutzige Gassen, in denen zerlumpte Menschen ihrer Arbeit nachgingen. Diese Gassen wurden von Rinnsalen voller Unrat gesäumt. Das war nicht das Paris, das Marcel gekannt hatte. Die Revolution befand sich auf einem ihrer Höhepunkte. Die Guillotine war erfunden worden, und am 25. April war als erster Mensch ein Straßenräuber damit hingerichtet worden. Von dieser Stunde an wurde reichlich Gebrauch von ihr gemacht. Im August des gleichen Jahres stürmte man die Tuilerien, und der König wurde für abgesetzt erklärt. Maximilien Robespierre übernahm die blutige Diktatur der Revolution. Im September bereiteten die Pariser Bürger ein Blutbad unter den in den Gefängnissen einsitzenden Anhängern des Königs. Feindliche Armeen waren auf dem Vormarsch, und die Bürger waren in Panik geraten, denn die Königstreuen sollten sich nicht wieder mit den zu Hilfe eilenden Armeen verbünden können.
Als Marcel Saint-Jacques das Tötungsinstrument auf dem Hinrichtungsplatz zum ersten Mal sah, lief ein eisiger Schauer durch seinen Körper. Die Bohlen des Holzgerüstes hatten sich bereits rostrot verfärbt. Madame Guillotine, wie sie im Volksmund genannt wurde, war auch für ihn eine Bedrohung. Diese Mechanik ließ ihn nicht nur zum ersten Mal erkennen, dass die Grausamkeit der Menschen die der Vampire bei weitem übersteigen konnte. Nein, zum ersten Mal empfand er auch seine adelige Abstammung als Fluch. Er wusste, dass viele unter Arrest stehende Adelige, darunter auch der König selbst und seine Familie, noch auf ihr Urteil warteten. Die Gefängnisse waren überfüllt. Alles, was auch nur im Entferntesten nach Adel roch, wurde ohne viel Federlesens zum Tode verurteilt. Konnte er es da wagen, nach dem Verbleib seines ehemaligen Gönners und Freundes, dem Marquis de Montespan, zu forschen? Ein riskantes Unterfangen. Und dennoch …Marcel spürte, dass die Zeit beim fahrenden Volk für ihn zu Ende ging. In den letzten Wochen, je näher sie der Hauptstadt kamen, war der Gedanke an Julien immer stärker geworden. Selbst Graziellas Schönheit konnte seine Sinne nicht länger fesseln, und das spürte auch die junge Zigeunerin. Die Frage war nur, würde sie ihn so ohne weiteres ziehen lassen oder an die Schergen der Revolution verraten? Während seiner Tagesruhe wäre er ein hilfloses Opfer für die Spitze eines Bajonetts. Was wäre, wenn Marcel ihr von seiner Suche erzählen würde? Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als die Wagen auf einem Platz rollten und die Gaukler sich für eine erste Vorstellung am Nachmittag vorbereiteten. Besser, er schwieg.
„Rein mit dir, du Hund!“
Mit diesen Worten schlug die schwere Eisentür des Kerkers zu. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Eine Gestalt in zerrissener Kleidung war hinein gestoßen worden, die nun auf das faulige Stroh sank. Nichts war mehr von dem
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