Im Bann der Lilie (Complete Edition)
einst so überheblichen Aristokraten übrig. Ein Häufchen Elend hockte da mit etwa fünf anderen Gefangenen, drei Frauen und zwei Männern, in einer Zelle. Ein Eimer mit trübem Wasser, ein anderer für die Notdurft, das war die ganze Einrichtung. Durch ein winziges, vergittertes Fenster kam wenigstens etwas frische Luft. Der Comte blickte sich um. Er war geschlagen worden, und sein rechtes Auge ließ sich nur mühsam öffnen. Den edlen Rock und die gepuderte Perücke hatte man ihm vom Leib gerissen, den Degen zerbrochen. Das Hemd war zerrissen und blutige Striemen hatten Spuren auf dem einst weißen Stoff hinterlassen. Eine Dame in einem ebenfalls zerfetzten Kleid, das bestimmt mal ein Vermögen gekostet hatte, reichte ihm mitleidig ihr zuvor in das Wasser getauchte Taschentuch, so dass er das angeschwollene Gesicht kühlen konnte. Sein Magen knurrte, aber hier unten gab es keinen Diener, der ihm ein gepflegtes Mahl servierte. Wenn sie Glück hatten, würde der Wärter sie bis zur Hinrichtung mit schimmeligem Brot und wässriger Suppe am Leben halten. Bei den übrigen fünf Gefangenen handelte es um die gesamte Familie des Grafen Polignac, die, genau wie der Comte, in zwei Tagen sterben sollte. Die ältere Frau betete mit ihren Töchtern fast unablässig den Rosenkranz. Blanke Furcht stand in ihren graublauen Augen, die gerötet waren von vielen Tränen. Dennoch versuchte sie, ihre Würde zu bewahren. Die beiden Jüngeren waren fast noch Mädchen. Dennoch wirkten sie wesentlich gefasster und spendeten ihrer verzweifelten Mutter Trost. Aber auch in ihren zarten Gesichtern stand die Angst geschrieben. Vater und Sohn hielten sich etwas Abseits. Sie fühlten sich hilflos.
Ein paar Stunden später öffnete sich die Kerkertür erneut und ein Mann in der Kleidung eines Feldschers betrat die Zelle.
Der Marquis Polignac schnaubte empört: „Guter Mann, wollt Ihr uns vor der Schlachtung noch auf unseren Gesundheitszustand hin überprüfen?“
Seine Frau wimmerte leise, und schon reute ihn der harsche Ton. Er biss sich auf die Zunge. Der hoch gewachsene Mann mit dem durchdringenden Blick sagte zunächst nichts. Stattdessen beugte er sich über die im Stroh liegende Gestalt des Comte, um ihn zu untersuchen. Der zuckte zusammen, als der Feldarzt das Gesicht berührte. Er packte spontan die kühle Hand des Medicus.
„Ich bitte Euch, verschafft uns einen gnädigen Tod!“, forderte er.
„Einen, der Euch den Spott des Pöbels nicht einmal spüren lässt und Euch hocherhobenen Hauptes den Gang zum Schafott erlaubt?“, fragte der Angesprochene in einem leicht spöttischen Tonfall zurück.
Der Comte nickte. So etwas wie Hoffnung glühte in seinem gesunden Auge auf. Auch die Gesichter der anderen Gefangenen hatten sich dem Arzt zugewandt.
„Oh, was seid ihr doch für ängstliche Kreaturen“, lachte dieser bitter auf, als er sich erhob.
Der alte Polignac wollte sich wegen der Bemerkung gleich auf ihn stürzen, wurde jedoch von seinem Sohn am Arm zurückgehalten.
Der Medicus schien zu überlegen.
„Nun gut, ich will Eure Bitte erfüllen.“
Niemand von ihnen ahnte, wie er dies zu tun pflegte. Bei dem Feldscher handelte es sich um keinen geringeren als um den Marquis Julien de Montespan, der sich unerkannt den Revolutionären angeschlossen hatte. Seine heilkundigen Fähigkeiten verschafften ihm rasch Respekt und den Posten des Gefängnisarztes. Hier war er genau richtig. Am Abend vor der Hinrichtung entnahm er den Verurteilten soviel Blut, dass sie gerade noch den Weg zum Schafott in einer Art Trance schafften, unbeeindruckt von der tobenden Menge, die den Weg des Wagens durch die Stadt zum Hinrichtungsplatz säumte. Diese Gebissenen befanden sich bereits zur Hälfte in einer ganz anderen Welt und bekamen kaum noch mit, was um sie herum geschah. Sie reagierten zwar empfindlich auf das Tageslicht, doch ihre Wandlung war noch lange nicht abgeschlossen. Julien brauchte auch nicht zu befürchten, dass sie ihrerseits jemanden angriffen, vielleicht sogar wandelten. Das scharfe Messer der Guillotine entledigte ihn dieser Sorge. Bei dem alten Mann machte er diesmal jedoch einen Fehler. Einen Fehler, der Jahrhunderte später die Existenz der Vampire entscheidend beeinflussen würde. Eigentlich war es nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle. André Polignac kam mit dem Ring der Lilie in Berührung als der Marquis de Montespan ihn packte und er erschrocken nach einem Halt suchte. Dabei packte er instinktiv die Kette, die
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