Im Bann der Lilie (Complete Edition)
aber das alles kommt so überraschend für mich. Seid Ihr jedem Fremden gegenüber so großzügig?“
Immer noch lachend schüttelte der Marquis den Kopf.
„Nein, das bestimmt nicht. Aber Ihr seid mir gleich sehr sympathisch erschienen. Ich würde Euch gerne näher kennenlernen. Berichtet mir bitte, was Euch hinaus in die Welt treibt.“
Marcel kam dieser Aufforderung gerne nach. Der Marquis orderte ein zweites Frühstück für sie beide und ließ den Jungen erzählen, ohne ihn in zu unterbrechen. Dafür beobachtete er jede Regung in dem hübschen Gesicht. Als sein junger Gast geendet hatte, machte Julien ein nachdenkliches Gesicht.
„Eure Halbschwester ist also die Comtesse Saint-Jacques. Armes Mädchen, in ihrem Alter immer noch unverheiratet zu sein, muss sie sehr belasten. Ihr Vater hätte sich mehr um sie kümmern müssen.“
„Ja, vielleicht, dann wäre sie jetzt nicht so verbittert“, gab Marcel zu.
Er selbst empfand keinerlei negative Gefühle gegenüber Elise.
„Nun, wir können nicht die Fehler unserer Väter vergessen machen“, seufzte der Marquis. „Auch ich war so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Ich zog es vor, fremde Länder zu erforschen und Artefakte zu sammeln, anstatt eine Familie zu gründen. Sehr zum Leidwesen meiner früh verstorbenen Eltern. Mein Bruder hat dagegen eine adelige Dame geheiratet, die scheinbar den Intrigen bei Hofe erlegen ist. Über Francoise-Athénais wurde bereits hinter vorgehaltener Hand getuschelt, dass sie ein Faible für Gift hatte, wenn es darum ging, unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Man konnte ihr jedoch nichts nachweisen. Sie ist sehr schön, müsst Ihr wissen und hat offenbar das Herz des Königs für sich gewonnen. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie meinem Bruder bald Hörner aufsetzen würde.“
Wenn Marcel sich jetzt nicht auf die Zunge gebissen hätte, hätte er wieder einmal laut „Oh“ gesagt. „Aber der König ist doch verheiratet“, warf er stattdessen ein.
Der Marquis brach erneut in ein Lachen aus. Welche Naivität aus diesem zauberhaften jungen Menschen sprach!
„Seht Ihr, genau das ist der Grund, warum Ihr hier seid“, gab er prustend zu. „Ihr amüsiert mich königlich. Eure Unschuld geht mir zu Herzen. Wenn Ihr wüsstet, welch ein hintergründiger Krieg aus Intrigen, Hass, Neid und Wollust bei Hofe tobt! Mein lieber Saint-Jacques, Ihr müsst noch eine Menge lernen.“
Wieder hatten seine Augen etwas Lauerndes angenommen, als er dies sagte. Marcel starrte ihn nur mit einem Ausdruck kindlicher Verwunderung an.
„Ihr seid wirklich sehr behütet aufgewachsen“, murmelte der Marquis und erhob sich wieder.
„Wie dem auch sei. Einer meiner Diener wird Euch nun das Anwesen zeigen. Ihr könnt auch gerne mit ihm ausreiten und die Umgebung erkunden. Ich werde mich nunmehr meinen Geschäften widmen.“
Der Marquis läutete nach der Dienerschaft und wandte sich dann noch einmal zu Marcel um.
„Nach Sonnenuntergang werden wir uns weiter unterhalten.“.
Es war schier unmöglich, den gesamten Landsitz des Marquis an einem einzigen Tag zu besichtigen. Die Ländereien umfassten mehrere Höfe sowie ein kleines Dorf, etwa sieben Kilometer vom Schloss entfernt, das inmitten der satten grünen Landschaft lag wie eine in Smaragde gefasste weiße Perle. Der Besitz des Marquis erreichte nahezu die dreifache Zahl an Hektar wie der des Comte Saint-Jacques und lag im Bezirk Châtellerault, ungefähr dreihundert Kilometer südlich von Paris. Das zweistöckige, giebelbewehrte Schloss selbst wurde umrahmt von mehreren Nebengebäuden, Stallungen, gepflegten Gärten, einer Fasanerie und sogar einem kleinen, privaten Observatorium, welches niemand außer dem Marquis betreten durfte. Hinter dem Herrenhaus befand sich ein Waldstück, in welchem eigens für die Jagd Rehwild gehalten wurde.
Pascal, einer der Dienstburschen, der mit ihm ausritt, war nur unwesentlich jünger als Marcel. Ein Bretone mit einem rotblonden Strubbelkopf, schalkhaften blauen Augen und unzähligen Sommersprossen in seinem fröhlichen Gesicht. Er bewunderte Marcels Hengst, während sie einen Feldweg entlang ritten, der von goldenen Äckern gesäumt wurde. Die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten und dem Duft der wilden Blumen.
„Ein solch edles Tier ist eines Herrschers würdig“, bemerkte er.
Pascal selbst ritt einen grobschlächtigen Wallach, der auch zur Arbeit auf den Feldern diente.
„Er war das Pferd meines Vaters“, erklärte
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