Im Bann der Lilie (Complete Edition)
oder Verbrennen. Wie unwürdig für einen so alten Vampir, wie er es war! Sekundenbruchteile später bemerkte er erleichtert, dass der Koffer wieder an der Oberfläche schwamm. Die See war ruhig und wenn nicht zu viel Wasser durch die schmale Ritze zwischen dem Deckel und den Seitenwänden eindringen konnte, dann würde ihn die Strömung vielleicht wieder zurück an Land treiben. Das Schiff konnte noch nicht all zu weit vom Hafen entfernt gewesen sein, als die Schlacht begonnen hatte!
Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte er sarkastisch, was sein Schützling immer so gehasst hatte. Auf einmal wurden die Gedanken an Marcel wieder lebendig und Julien begriff, dass seine Hoffnung sich wohl eher auf ein Wiedersehen bezog als auf sein eigenes Überleben. Diese Erkenntnis erschreckte ihn gleichzeitig.
Langsam ging die Sonne auf über dem nassen Schlachtfeld und offenbarte den ganzen Schrecken des Krieges vor Siegern und Verlierern. Julien spürte dies anhand der steigenden Außentemperatur. Ihm blieb nun nichts anderes übrig, als abzuwarten. Er dämmerte unruhig hinüber in die todesähnliche Stille, die Vampire während des Tages zu halten pflegten. Genau das Gleiche tat Marcel Saint-Jacques an Bord der CULLODEN.
„Hievt an!“, kam die ungehaltene Stimme des ersten Offiziers zum dritten Mal oben von Deck und: „Na los, ihr faulen Hunde!“
Zwei Matrosen hatten im knietiefen Wasser über der Sandbank Seile um das Fundstück gelegt und ließen die Kiste, die sich bei näherem Hinsehen als Koffer entpuppt hatte, an Bord der CULLODEN ziehen. Natürlich hoffte man auf reiche Beute aus einem der Franzosenschiffe, doch die Mannschaft sollte enttäuscht werden. Zunächst sollten die Männer dabei helfen, das Schiff wieder flott zu kriegen. Kapitän Troubridge ließ das Fundstück ungeöffnet direkt in den hinteren Frachtraum bringen.
Unvermutet waren die beiden Vampire sich so nah wie schon lange nicht mehr. Beide in ihrer totenähnlichen Starre gefangen. Aber Julien spürte die Anwesenheit von Marcel mental ganz deutlich. Unbändige Freude erfüllte ihn trotz seiner Reglosigkeit. Die Anstrengungen der letzten Monate waren vergessen. Wie sehnte er den Abend herbei! Er wollte sich entschuldigen für den Streit, der sie entzweit hatte, und den Auserwählen endlich wieder in die Arme schließen. Vorsichtig versuchte er, einen telepathischen Kontakt herzustellen. Aber irgendwie erreichte er Marcels Geist nicht. Dieser schien sich auf ganz andere Dinge zu konzentrieren als auf seine Umgebung, was doch so überlebenswichtig war für einen Untoten! Das hatte er selbst ihn gelehrt!
Julien machte sich Sorgen. Erneut versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen, diesmal eindringlicher. Vergebens. Ob sein Mündel überhaupt noch an ihn dachte? Sollte er es wagen, Marcels Gedanken zu lesen? Eigentlich war das ein Vertrauensbruch zwischen ihm und seinem geliebten Geschöpf. Dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Das erste, was er sah, war ein Paar blauer Augen unter langen dunklen Wimpern. Soviel war klar: Das waren nicht Juliens Augen! Diese hier zwar viel Schmerz erlebt, strahlten aber eine derart unschuldige Liebe aus, wie er es bislang nur wenige Male gesehen hatte. Langsam formte sich in seinem Kopf die dazu gehörige Gestalt: ein junger Mann, fast noch ein Knabe, in zerlumpter Kleidung. Um diesen Jungen kreisten die Gedanken von Marcel Saint-Jacques nahezu ununterbrochen. Ein Sterblicher hatte das unsterbliche Herz seines Schützlings erobert! Hatte Marcel das gegeben, was Julien selbst ihm einst hatte schenken wollte. Es schien, als könnte er selbst diesen fremden Jungen spüren, riechen. Seine Haut duftete nach Wind, Holz, Salzwasser und Freiheit.
Die Gedanken des Marquis tauchten tiefer hinein in die Emotionen, die seinen ersehnten Gefährten bewegten, erfassten die untergründige Lust, die nicht allein auf dem Genuss des heißen, jungen Blutes beruhte, das der andere Junge ihm spendete. Eine Lust, die auf Julien übersprang wie eine prickelnde Dusche mit kühlem Champagner und die Adern in seinem starren Körper fast zu bersten brachte vor Verlangen. Das Prickeln wurde zu Stichen, zu einem Feuer, einem Flächenbrand unter seiner kalten Haut. Ein leiser Seufzer entrang sich unkontrolliert seinen Lippen.
Eifersucht stieg in dem Marquis hoch, der sich in eine rasende Wut steigerte, in die sich eine äußerst menschliche Unsicherheit mischte. Die beiden jungen Männer waren äußerlich etwa im gleichen Alter.
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