Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Empfand sein Mündel etwa nur väterliche Gefühle für ihn? Am liebsten hätte er den Kofferdeckel gesprengt, Marcel zur Rechenschaft gezogen und ihn angeschrieen: „Warum ausgerechnet dieser dumme Mensch? Warum hast du ihm geschenkt, was du mir verwehrt hast? Marcel, je suis à toi! Du musst doch gespürt haben, wie sehr ich dich von Anfang an begehrte! Weißt du überhaupt, was du diesem sterblichen Wurm damit antust?“
Nichts davon wurde ausgesprochen. Dabei war ihm das Schicksal des fremden Jungen ziemlich gleichgültig. Was Marcel nicht wissen konnte: Bei einer solch intensiven Beziehung zwischen einem dunklen Engel und einem Sterblichen – so angenehm und vorteilhaft diese auch für den Vampir sein mochte – entstand immer eine Hörigkeit, aus der sich der Mensch nie wieder würde befreien können! Jeder Blutstropfen enthielt die Essenz des Seins. Auch wenn sich das Blut immer wieder neu bildete und das Leben an sich schier unerschöpflich zu sein schien: Je regelmäßiger der Vampir davon nahm, desto stärker wurde die Bindung an die Essenz des Menschen selbst – die Seele. Am Ende konnte es für letzteren nur eine Entscheidung geben: Wahnsinn oder Wandlung! Diese Tatsache hatte der Marquis seinen Schützling noch nicht lehren können. Was für ein dummer Fehler! Vielleicht hätte Marcel dann seinen Gefährten unter seinesgleichen gewählt und wäre direkt bei ihm geblieben!
Julien verharrte – äußerlich ruhig schlafend, doch innerlich aufgewühlt wie ein Vulkan – in seinem Gefängnis, das ihn mittlerweile zu erdrücken schien. Es wurde unerträglich heiß hier drin oder stand gar das ganze Schiff in Flammen? Unsinn! Alles nur Einbildung! Er zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe, wartete ungeduldig auf den richtigen Zeitpunkt, wenn die Sonne untergehen und die Dunkelheit seinem Körper wieder die gewohnten Fähigkeiten verleihen wurde. Noch herrschte zuviel Unruhe auf dem Schiff, und er wusste nicht genau, wo er sich befand. Da draußen musste es wohl immer noch helllichter Tag sein. Noch quälender als das mentale Miterleben der Zärtlichkeiten zwischen dem geliebten Marcel und einem Fremden war die Gewissheit, dass sich sein Schützling in greifbarer Nähe befand. Warum bemerkte dieser ihn nur nicht?
Zu gefangen war der junge Chevalier in seinen grenzenlosen, sinnlichen Träumen, an denen er den Marquis unfreiwillig teilhaben ließ und seinem Erschaffer so heimliche Wonnen bereitete. Julien ballte hilflos die Hände zu Fäusten. Das war die einzige Regung, zu der er im Augenblick fähig war. Seine Strafe dafür, dass er sich unbemerkt in die Gedanken seines Mündels eingeschlichen hatte. Er nahm seine Umgebung mittlerweile kaum mehr wahr. Dann wurde sein pulsierendes, sehnsuchtsvolles Verlangen von dem Gefühl blanken Entsetzens abgelöst, als sein Reisekoffer erneut gepackt und hochgehoben wurde.
Ein anderes Schiff sollte die CULLODEN freischleppen, und jede Hand an Bord wurde jetzt gebraucht. Auf offener See wollte der Kapitän den Männern heute Abend erstmal einen Rum spendieren, auch wenn der Kampf für sie eher als unfreiwillige Zuschauer am Rande verlaufen war – was nicht zuletzt sein Verschulden gewesen war. Dennoch gehörte sein Schiff zur Flotte des siegreichen Admiral Nelson und Troubridge wollte die Stimmung an Bord unbedingt wieder heben. Aus diesem Plan wurde vorläufig nichts. Eine der englischen Fregatten näherte sich gerade mit dem Wind. Sie musste aufpassen, nicht auch auf die Sandbank aufzulaufen. Als sie nahe genug war, wurden schwere Taue an Enterhaken befestigt und über die Bordwände hinübergeworfen. Dann wendete das Schiff wie in Zeitlupe. Der erste Versuch misslang. Schnell stand fest: Nicht nur der Wind musste günstig stehen, die CULLODENmusste unbedingt leichter werden! Troubridge gab den Befehl, alles außer seinem persönlichen Besitz und den Vorräten auf das andere Schiff hinüber zu bringen. Ruderboote wurden zu Wasser gelassen, während andere Matrosen damit beschäftigt waren, alles Überflüssige aus dem Inneren des Schiffes an Deck zu befördern. Die Fregatte war unweit vor Anker gegangen, um die Fracht aufzunehmen.
Julien spürte, wie sein Versteck auf ein Boot gebracht und später erneut auf ein anderes Schiff gehievt wurde, um wiederum in einem Frachtraum zu landen. All das konnte er dem Tun und den Rufen der Seeleute entnehmen. Wie spät es wohl war? Die Sonne befand sich bereits auf ihrem Tauchgang am Horizont und färbte das Wasser mit
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