Im Bann der Lilie (Complete Edition)
einem rötlichen Goldton. Mit dem Einsetzen der abendlichen Flut wollte man einen neuen Versuch wagen, die CULLODEN aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Diesmal klappte es und das glücklose Kriegsschiff kam frei. Troubridge setzte Kurs auf Neapel, um dort die Schäden an seinem Schiff reparieren zu lassen und erst danach wieder die englische Heimat anzulaufen.
Die englische Fregatte kappte die Schlepptaue und segelte auf ihrem eigenen Kurs davon. Ihr Ziel war der englische Hafen Liverpool.
Als Marcel an diesem frühen Abend aus seinem Schlaf aufschreckte, war ihm, als hörte er in seinem Kopf aus weiter Ferne Juliens Stimme voller Abschiedsschmerz seinen Namen rufen: „ Maarcel!!! Je t´attends!“ Das Echo dieses Rufes hallte noch einige Zeit in seinem Geiste nach.
Hätte er nur geahnt, wie nah sie sich bereits gewesen waren und doch durch den Fluch der Vampire voneinander getrennt. Reglos! Der hübsche Chevalier schüttelte seinen Kopf, wie, um aus einem bösen Traum aufzuwachen. Dann wartete er darauf, dass Silvio sich zu ihm in den Frachtraum schlich. Dabei freute er sich nicht nur auf das frische Blut, dass der Schiffsjunge ihm so bereitwillig offerierte.
Neapel, Herbst 1798
An einem milden Septemberabend schlichten sich zwei heruntergekommene Gestalten von Bord der CULLODEN. Silvio hatte seinen gefährlichen Freund an die Hand genommen. Er besaß den Instinkt einer streunenden Katze oder besser gesagt, eines Überlebenskünstlers, und führte Marcel sicher durch die verwinkelten Gassen der schlafenden Stadt. Zunächst einmal lag ihm daran, für den kommenden Tag eine Unterkunft für seinen verfluchten Engel zu finden, wo der Vampir tagsüber sicher und unbehelligt ruhen konnte. Was eignete sich dazu besser als die Krypta einer kleinen Friedhofskapelle? Blieb nur zu hoffen, dass in den nächsten Tagen keine Beerdigung stattfinden würde. Aber das Risiko mussten sie eingehen. Hier war Marcel vorübergehend in Sicherheit. Die Totenruhe war den gläubigen Italienern heilig.
Als zweites würden sie beide dringend frische Kleidung benötigen. Der Geruch verriet ihre Zugehörigkeit zu einer Schiffsmannschaft schon von weitem. Aber dies war das weitaus geringere Problem, denn der Chevalier hatte in seiner Gewandung einige der kostbaren Edelsteine eingenäht, die einige Adelige ihm als Lohn für seine Tätigkeit als Rédempteur gesandt hatten. Drei der Steine trennte er heraus und übergab sie Silvio. Am nächsten Tag sollte dieser für Kleidung, Nahrung und alles Notwendige sorgen und in Marcels Namen und Auftrag ein kleines Haus mieten, wo sie beide ungestört wohnen und nach Silvios Anverwandten forschen konnten. Diese Juwelen konnten sie zudem beide für lange Zeit am Leben halten und einen gewissen Wohlstand garantieren.
Der Junge merkte gar nicht, wie sehr er dem schönen Untoten bereits verfallen war. Dessen Wohlergeben hatte mittlerweile sogar sein eigenes Bestreben nahezu völlig verdrängt. Was würde geschehen, wenn Silvio wirklich noch Familienmitglieder in dieser Stadt besaß und diese ihn aufnehmen wollten? Was sollte dann aus ihm werden? Etwa ein Fischer? Oder einer von diesen spießigen Kaufleuten? Ein Familienvater, der ein halbes Dutzend Kinder zu ernähren hatte? Er konnte Marcel doch niemals verlassen! Und der wollte unbedingt zu diesem Napoleon, der sich nicht einmal im nahen Frankreich befand. Im Gegensatz zu dem Menschen hatte der junge Vampir jedoch unendlich viel mehr Zeit, seine Ziele zu erreichen. Die Furcht, seinen unsterblichen Freund zu verlieren, wuchs in dem jungen Halbitaliener von Tag zu Tag. Am liebsten wäre er gar nicht mehr von seiner Seite gewichen. Ihn grauste vor der Tatsache, dass er altern würde und Marcel nicht. Er lebte nur in dessen Beisein richtig auf. Sonst verhielt er sich fast schon ein Süchtiger: hungrig nach jeder Berührung, jeder kleinen Verletzung, die Marcels Zähne in seinen Körper schlugen. Durch die Zeit ihres innigen Zusammenseins hatten Silvios Augen einen seltsamen fiebrigen Glanz angenommen. Das erste Anzeichen jener rückhaltlosen Hörigkeit, vor welcher der Marquis Marcel hatte warnen sollen. Wenn sie so weiter leben würden, war der Geist des Jungen ernsthaft in Gefahr!
Frühmorgens begann Silvio bereits mit seinen Erledigungen. Da war zunächst der Gang zum Tuchhändler, den er mit den letzten Silbermünzen entlohnte. Die neue Kleidung für Marcel und sich selbst brachte er erstmal zur Kapelle und zog sich dort um. Zuvor badete er
Weitere Kostenlose Bücher