Im Bann der Ringe (German Edition)
Deckel soweit hoch, dass er hineinsehen konnte. Auf ihrem mit rotem Samt ausgelegten Boden lag eine kleine Schriftrolle. Ein altes Stück Pergament, versiegelt durch rotes Wachs. Er erkannte in dem Siegel nichts anderes als das Pentagramm. Das Schutzzeichen der Hexenschaft.
Die Hexenschaft war zu jener Zeit ein Schutzbund gewesen, der allen Hexen, Heilern und Hellsehern Zuflucht und Schutz gewährte. Das heutige Aeskulapzeichen – der Stab mit der sich darum schlängelnden Schlange – hatte dort seinen Ursprung.
Die Schlange war den Heilern vorbehalten, der Stab samt einer Kugel den Hellsehern. Damals gehörten dem Zeichen noch zwei Hände an, die magischen Hände der Hexen, die den Stab umschlossen, doch dieses Symbol hatte sich im Laufe der Jahrhunderte verflüchtigt. Ebenso, wie das Pentagramm, welches das geheime Erkennungszeichen des Schutzbundes war.
Levian war sich bewusst, dass diese Erinnerung niemals die jetzige Zeit erreichen würde, wenn er sie nicht an die Öffentlichkeit brächte. Doch warum sollte er das tun? Wer würde ihm schon glauben? Nein, es war besser, die Vergangenheit der Hexenschaft endgültig ruhen zu lassen. So hatte er gedacht. Bis jetzt …
Auch Levians Familie hatte einst dem Schutzbund angehört. Er fragte sich, was wohl aus ihm geworden war. Und aus seiner Mutter. In seiner Brust zog es sich schmerzhaft zusammen und erst jetzt begriff er, dass er einen großen Verlust erlitten hatte. Egal wie lange es wirklich her war, dass er seine Familie nicht mehr gesehen hatte – durch die urplötzliche Erinnerung war ihm, als wäre es erst gestern gewesen. Und der Schmerz, der so mächtig in ihm aufwallte wie ein Geysir, sprudelte plötzlich mit aller Kraft aus ihm heraus.
Er musste seiner Anspannung ein Ventil geben, ballte die Hand zur Faust und schlug mit voller Wucht auf das Board, fegte alle Gegenstände mit einer Bewegung vom Schrank und schlug auf das Regal ein, als gäbe es kein Morgen. Ein Schrei stockte in seiner Kehle, wartete darauf, hinausgelassen zu werden, seine ganze Kraft anzuwenden, doch Levian schluckte ihn hinunter. Nein, er schrie nicht. Nur ein leises Schluchzen kam über seine Lippen. Ein Schluchzen, das seine ganzen Gefühle in einem einzigen Ton auf den Punkt brachte: In ihm brannte ein Feuer, das ihn innerlich auffraß, und er konnte nichts dagegen tun.
Er brach auf dem Teppich vor dem Sideboard zusammen und versank in einer Qual, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Erst als draußen vor seinen Fenstern die Sonne dabei war, zu versinken und ihn fragend anblickte, setzte er sich langsam auf. Bereit, sich seiner Aufgabe zu stellen.
Die Kiste lag offen auf dem Boden, die Schriftrolle war durch den Aufprall herausgefallen und ein Stück weiter gerollt. Zaghaft griff er nach der Rolle und hob sie auf. Ohne den Blick von ihr zu lösen, stand er auf und setzte sich auf das Sofa.
Draußen verabschiedete sich die Sonne mit einem letzten Blick in seine Fenster, als er sich endlich dazu entschloss, das zu tun, was er tun musste. Er brach das Siegel, rollte das Pergament auseinander und sah bestürzt auf eine leere Seite. Er drehte es um, aber auch die Rückseite war unbeschrieben. Leer. Bis auf das Siegel.
„Das gibt’s doch nicht!“ Wie von Sinnen sprang er wieder auf, war mit drei großen Schritten bei der Kiste, nahm sie in die Hand und schüttelte sie. Aber nichts, kein weiteres Papier, keine Nachricht, kein Hinweis fiel heraus. Er konnte sich auf den Kopf stellen – die Kiste blieb leer. Er untersuchte auch den Umkreis auf dem Boden, unter dem Sideboard, im ganzen Raum. Nichts. Kein Zeichen. Nichts, was ihm unbekannt erschien. Wie betäubt ließ Levian die Kiste sinken und trat schwerfällig ans Fenster.
Das Wetter war umgeschlagen. Wind wehte in den Bäumen, leichter Regen prasselte gegen die Scheiben. Sein Körper fühlte sich schwer an und eine tiefe Traurigkeit erfüllte den Raum, der sein Herz war. Er fragte sich, womit er das verdient hatte.
Jahrhundertelang hatte er diese Kiste mitgeschleppt, seinen einzigen Hoffnungsschimmer auf den erlösenden Tod. Auf ein Ende aller Qualen. Doch jetzt wurde ihm auch das genommen. Wie sollte er bloß weitermachen? Ohne Hoffnung? Ohne Hoffnung war er wie ein Schiff auf offener See in dunkler Nacht ohne Orientierung. Seine Hoffnung war das Leuchtfeuer gewesen, das ihm den richtigen Weg wies. Doch nun?
Er starrte weiter aus dem Fenster in die anbrechende Nacht und fühlte sich, als wäre die Sonne nicht nur vom
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