Im Bann der Träume
glauben, daß sie den ganzen Widerstand ausgeschaltet hatten.
»… Fünfundneunzig, sechsundneunzig …«, zählte Charis und hoffte, daß sie nicht zu hastig gezählt hatte.
»… Neunundneunzig, hundert!« Sie kroch den Osthang hinab und machte sich auf den Weg. Das Licht war noch ziemlich hell, und sie mußte immer in Deckung bleiben. Unter jedem dichtbelaubten Busch oder Baum blieb sie stehen und suchte die nächsten Meter sorgfältig mit den Augen ab. Um möglichst unsichtbar zu bleiben, schlug sie einen Bogen. Als es an der Zeit war, zur Landebahn einzubiegen, war Charis’ Mund ausgedörrt, ihre Handflächen fühlten sich schweißnaß an, und ihr Herz schlug einen verrückten Trommelwirbel.
Sie fand einen alten dürren Ast, der aber für ihren Zweck lang genug war. Eine Spionmine konnte sowohl versteckt auf der Erde als auch irgendwo in Kniehöhe angebracht sein, so daß man sie auch im Vorüberstreifen aktivierte. Rechneten die in den Kuppeln damit, daß sich jemand einzuschleichen versuchte? Gut, wenn sie es taten, dann mußte man sich eben darauf einstellen. Um ganz sicherzugehen, streifte sie von niedrigen Zweigen die Blätter ab, die sie mit einigen Ranken fest um den dürren Ast band.
Es war ein ziemlich primitives Werkzeug, um damit Fallen aufzustöbern und unschädlich zu machen, aber es verbesserte ihre Aussichten ganz beträchtlich. Sie kam nun allerdings recht langsam voran, da sie ja jeden Fußbreit des Bodens mit ihrem Ast abtasten mußte.
Bald schmerzten ihre Schultern von der Anstrengung, denn der Ast war schwer. Ihr Ziel schien sich mit jeder Minute mehr von ihr zu entfernen, obwohl sie sich verbissen vorwärtskämpfte.
Auf eine Spionmine war sie bisher noch nicht gestoßen. Irgendwann mußte dieser mühsame Weg ja ein Ende finden! Charis blieb stehen, um tief durchzuatmen. Kein Geräusch kam von den Kuppeln, kein Laut war zu hören, nichts wies auf einen menschlichen oder automatischen Wächter hin. Waren sich die Eindringlinge ihrer Sache so sicher, daß sie es nicht einmal für nötig hielten, Posten aufzustellen?
Nur nicht allzu selbstsicher werden, sagte sie sich vor. Noch hatte sie die Hand nicht auf den Türriegel des Hubschraubers gelegt. Und außerdem konnte gerade die Maschine als Falle präpariert sein. Würde es ihr gelingen, diese Falle zu finden und unschädlich zu machen?
Immer nur eines auf einmal, mahnte sie sich selbst, eines nach dem anderen …
Wieder hob sie ihren Ast, schob sich vorsichtig weiter und lauschte. Da trug ihr der leichte Abendwind einen Geruch zu. Wolf! Charis wußte, daß Wildtiere, wenn sie ängstlich oder wütend sind, einen scharfen Geruch von sich geben. Deutete dieser Geruch darauf hin, daß Togi mit ihren Jungen in der Nähe war?
Würde es ihr gelingen, mit der Wölfin in Kontakt zu kommen, obwohl das Tier von ihren freundlichen Absichten nichts wissen konnte? Lantee hatte vor kurzem gesagt, daß Togi, seit sie ihre Jungen bekommen hatte, nicht mehr so auf Menschen reagierte wie früher. Wölfe sind Jäger, wußte sie; war Togi jetzt auf der Jagd?
Charis schnupperte und versuchte die Richtung festzustellen, aus der der Geruch kam. Er war sehr schwach; vielleicht hing er auch nur noch an Gräsern und Büschen, und es lag schon Stunden zurück, daß die Wölfin an ihnen vorbeigestreift war. Links von ihr erkannte sie die Positionslichter des Patrouillenschiffes, also befand sie sich jetzt unmittelbar an der Landebahn. Charis warf ihr Minensucherbündel vor sich hin und kroch weiter.
Ein Kreischen, ein Knurren, das Brechen von Zweigen links von ihr; ein zweiter Schrei ertönte – und ein blubberndes Geräusch.
Charis biß sich vor Aufregung auf die Lippen. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie den Busch mit den peitschenden Zweigen. Wieder ein Schrei. Und dann waren plötzlich Gestalten auf der Lichtung und rannten auf den Lärm zu. Als sie sich näherten, konnte Charis sie besser sehen.
Charis unterdrückte einen Schrei. Diese rennenden Gestalten trugen Speere von der gleichen Art, die sie und Lantee an der Niederlassung gefunden hatten. Sie waren größer als die Wyvern, die Charis kannte; ihre gehörnten Köpfe sahen kleiner aus, und die Flügel an den Schultern glichen eher einem häßlichen Gerippe als kleinen Schwingen. Es waren die Wyvermänner, die Charis während der ganzen bei den Hexen verbrachten Zeit nie zu Gesicht bekommen hatte.
Sie kreischten entsetzlich schrill, und dieses Kreischen zerrte an Charis’ Nerven. Zwei
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