Im Bann der Wasserfee
der Tiefe. Dies war ihm das endgültige Signal, dem er sich nicht entziehen konnte.
Dylan tauchte auf. Das Wasser perlte an seinem nackten Menschenleib herab. Sein Blut strömte schnell und konzentrierte sich in seiner Mitte. Er hatte eine Erektion.
Dylan erschrak, als er die Frau erkannte. Niamh! Ausgerechnet sie saß weinend am Strand. Nicht sie! Prüfend betrachtete er ihr Gesicht. Hatte sie ihn in seiner Selkie-Gestalt im Wasser gesehen? Kurz erkannte er Erschrecken in ihrem Blick, doch dies konnte auch an seinem plötzlichen Auftauchen oder seiner Nacktheit liegen.
Niamh lächelte schwach. »Dylan?«
»Geht es Euch gut?« Welch überflüssige Frage, doch ihm fiel nichts anderes ein.
Tränenrinnsale zeichneten ihr Gesicht. Blut lief an ihren Händen herab und tropfte hinab in die Meeresflut.
»Es ist nichts.«
Obwohl er ihren Blick auf sich spürte, machte er keine Anstalten, seine Blöße zu verdecken. Niamh schien dies nicht zu irritieren. Im Gegenteil sah sie ihn ungeniert an.
»Niamh, ich ... Kann ich etwas für Euch tun?«
Sie wandte ihr Gesicht ab, als würde sie sich für ihr Weinen schämen. »Nein, es liegt nicht an Euch. Geht wieder!«
Irritiert sah er sie an. So etwas war ihm noch nie passiert. Keine menschliche Frau wies einen Selkie zurück. »Wünscht Ihr das wirklich?«
Niamh starrte an ihm vorbei aufs nachtdunkle Gewässer. »Ich weiß nicht, was ich mir wünsche. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Unbewusst, wie es den Eindruck machte, trat sie ein paar Schritte auf ihn zu. Sie schüttelte den Kopf. Zwei Tränen tropften von ihrem Kinn.
Es wäre schlimmer, ihren Leib zu kennen und ihn fortan zu entbehren, als ihn niemals erfahren zu haben. Doch nicht auf diese Weise. Die flüchtigen Gefühle würden so schnell vergehen, wie sie gekommen waren. Freiwillig sollte sie es mit ihm tun, nicht aus dem Selkie-Zauber heraus, der sie doch nur für kurze Zeit trösten würde. Besser noch aus Liebe, doch für diese wäre es ohnehin ein Schritt in die falsche Richtung.
Nicht Niamh, bitte nicht mit Niamh! Er betete lautlos zu den Göttern, an die er schon lange nicht mehr glaubte.
Sie hob den Blick. Er merkte, wie sie das Weinen mit Gewalt unterdrückte. Sie besaß Stolz und Stärke, zwei Eigenschaften, die ihn an Frauen schon immer beeindruckt hatten.
Trotz ihrer Traurigkeit und all der unterdrückten Tränen maß sie ihn mit ihrem Blick, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Lag Erkennen darin?
Es war ungewöhnlich, dass sie sich ihm noch nicht genähert hatte, obwohl er ihre Erregung roch. Gerade jetzt besaß er eine Anziehungskraft auf Frauen, der bisher noch keine zu widerstehen vermocht hatte.
Sein Blick fiel auf ihre Hände, die sie verkrampft ineinander verschlungen hatte. Immer noch floss Blut über ihre Haut.
»Wer hat Euch verletzt?«
»Ich habe mich versehentlich geschnitten.«
Dylan bemerkte den blutbeschmierten Dolch mit dem juwelenverzierten Griff, der neben ihr lag. Er wollte ihn aufnehmen, doch Niamh ergriff ihn zuerst. »Berühre ihn nicht«, sagte sie, »denn er vermag sogar Götter zum Bluten zu bringen.« Aus Niamhs Mund erklang ein freudloses Lachen. »Ach, was rede ich für einen Unsinn.« Sie wischte die Dolchklinge mit einem Tuch, das sie aus ihrem Kleid gezogen hatte, ab und steckte beides weg.
»Welch ungewöhnliche Frau Ihr doch seid.«
»Ich friere«, sagte sie. »Immer wenn ich hier am Meer stehe, ist mir kalt, eiskalt. Schwimmt nicht zu weit raus heute Nacht.« Niamh starrte hinaus auf das nachtschwarze Meer.
Jetzt bemerkte Dylan es auch: Etwas war dort draußen, etwas Schwarzes, Lauerndes. Wie konnte es sich bisher vor ihm verborgen halten?
Niamh bedachte ihn mit einem Blick, der ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Sie wusste etwas. Sie ahnte, was dort draußen vor sich ging. Für ihn war es etwas Unbegreifliches, das sich ihm entzog. Niamh wandte sich um und lief zurück in Richtung des Nordtores.
Dylan sah ihr erstaunt nach. Sie war die erste Frau, die seiner Anziehungskraft nicht erlegen war. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Es konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hegte sie starke Gefühle wie Liebe oder Hass für ihn. An die andere Möglichkeit wagte er nicht zu denken.
Erneut blickte er hinaus aufs Meer, doch die Schwärze war verschwunden. Hatte er sie sich nur eingebildet? Er hoffte es. Er hoffte es sehr – für Ys und für sich selbst.
Durch die Augen eines Fünfjährigen wirkte die Welt groß und bedrohlich.
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