Im Bann der Wasserfee
Ragnar wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Irgendein Geräusch vermutlich. Er verließ das winzige Baumhaus, das gut verborgen in der Krone lag, und kletterte hinab auf den Waldboden. Es waren nur wenige Meter durch den Wald bis zum Haus seines Vaters.
Durch die Hintertür schlich er ins Haus und die Dienstbotentreppe hinauf. Im oberen Flur vernahm er Schritte. Ragnar eilte in die entgegengesetzte Richtung. Wenn sie herausfanden, dass er die halbe Nacht in seinem Baumhaus verbracht hatte, so setzte dies Prügel. Sein Vater fürchtete stets, Feinde könnten ihn, seinen Erben, aufgreifen, doch Ragnar lag das Abenteuer einfach zu sehr im Blut.
Der Flur war lang und düster, erfüllt von schwerer Stille. Die Tür von Sverðluns Schlafzimmer war angelehnt. Normalerweise war sie immer geschlossen. Sein Vater wollte nicht beobachtet werden beim Liebesspiel mit seiner schönen jungen Gemahlin, die er erst zwei Sommer zuvor geehelicht hatte.
Ragnar betrat den Raum dennoch und erstarrte. Niemals zuvor hatte er in seinem kurzen Leben Schrecklicheres erblickt.
Das Blut war überall: an den Wänden, dem Fußboden, doch am meisten davon befand sich auf dem Bett. Es war regelrecht getränkt damit an jener Stelle, wo seines Vaters Leiche lag. Der süßlich-schwere Geruch des Todes hing in der Luft und ließ ihn würgen, doch Ragnar beherrschte sich.
Jemanden im Schlaf die Kehle aufzuschlitzen war eine feige Tat, wie kein Nordmann sie ausführen würde. Valhöll, die Halle der Erschlagenen, in Asgard war denen verschlossen, die nicht im Kampf starben. Jeder wusste und respektierte das. Selbst den schlimmsten Feinden wurde ein angemessener Tod gewährt.
Dies musste die Tat von den Fremden sein, die übers Meer gekommen waren. Warum hatte es niemand bemerkt, bevor es zu spät war?
Ragnar nahm sich mit zitternden Händen den Dolch seines Vaters, der am Boden neben dem Bett lag, wickelte ihn in ein Tuch, das er ebenfalls auf dem Boden fand und vermutlich eines von Malgvens Tüchern war, und verließ den Raum. Er eilte den Flur entlang und die schmale, selten benutzte Dienstbotentreppe hinab, die über die Küche zu einem Hinterausgang führte. Glücklicherweise ließ sich die alte Tür beinahe lautlos öffnen.
Eine Magd lag auf dem Küchenboden in einer Lache aus Blut, doch sie atmete noch. Als er sich über sie beugte, schlug sie die Augen auf. »Lasst Gnade walten. Tötet mich.« Ihre Stimme klang rasselnd. Ragnar vernahm den Geruch von Rauch, Asche und Blut.
Er beugte sich über die Sterbende. »Was ist geschehen?«
»Fremde. Malgven. Uns verraten. Tötet mich und geht. Rettet Euch, Herr.« Schweiß lief über ihr aschfahles Gesicht. »Tötet mich! Habt Erbarmen.«
Ragnar hob den Dolch seines Vaters an und stieß ihn der Totgeweihten so fest er konnte ins Herz. Die Magd riss ihre Augen auf. Ein Stöhnen entwich ihren Lippen. Sie tat einen letzten Atemzug und erblickte dann Valhöll.
Ragnar wischte den Dolch an ihrem Gewand ab, nahm sich ein paar haltbare Vorräte aus der Küche, wickelte sie in ein Tuch, das er zusammenknotete und an sich festband. Der Brandgeruch verstärkte sich rapide. Jemand hatte das Haus angezündet!
Ragnar verließ es durch die Hintertür. Er eilte durch das Dickicht, wobei er versuchte, leise zu sein. Alle waren tot. Aus der Ferne sah er riesige Flammen aus dem Haus schlagen und es in Asche verwandeln. Mit dem Gebäude verbrannte sein Vater, sein Heim, seine Vergangenheit und seine Kindheit.
Ragnar schrie, als er erwachte. »Stirb!« Er riss den Dolch hoch, doch hielt er im letzten Moment aus einem Instinkt heraus inne.
»Ich bin es, Dylan.« Die Stimme zitterte. Endlich erkannte er den schwarzen Umriss vor sich.
»Dylan?« Nur langsam holte Ragnar die Wirklichkeit ein. Er ließ die Dolchhand sinken, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fluchte leise. Seit Jahren quälten ihn diese Albträume. Niemals würde er frei davon sein, solange die böse Zauberin und Gradlon noch lebten. Der Albtraum konnte sich jederzeit für jemand anderen wiederholen.
»Berühre mich nie wieder, während ich schlafe. Es könnte dein Tod sein!«
Dylan starrte ihn an, als wäre er ein Fremder. »Das habe ich gemerkt.«
Ragnar ging zur Waschschüssel und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann ging er, um das zu tun, was seine blutige Pflicht war.
Kapitel 3
Die Zauberin musste sterben, gleichgültig, wie schön und anziehend sie sein mochte. Die dichte Wolkendecke am Firmament
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