Im Bann der Wüste
einige Atemzüge lang. »Man erzählt sich, dass Icarium regelrecht besessen von der Zeit ist; stimmt das?«
»Ja«
»Er baut bizarre Konstruktionen, um die Zeit zu messen, und verteilt diese Konstruktionen überall auf der Welt.«
»Seine zeitlichen Landkarten, ja.«
»Und er hat das Gefühl, dass er sich seinem Ziel nähert, oder? Er ist kurz davor, seine Antwort zu finden – die Antwort, die Ihr mit allen Mitteln von ihm fern zu halten sucht. Ist das Euer Eid, Mappo? Den Jhag unwissend zu halten?«
»Unwissend, was die Vergangenheit angeht, ja. Seine Vergangenheit.«
»Diese Bemerkung macht mir Angst, Mappo. Ohne Geschichte gibt es kein Wachstum …«
»Stimmt.«
Der Sappeur verstummte erneut. Es gab nichts mehr, was er noch zu sagen gewagt hätte. In diesem riesigen Krieger ist so viel Schmerz. So viel Traurigkeit. Hat sich Icarium niemals gewundert? Niemals diese jahrhundertelange Partnerschaft in Frage gestellt? Was bedeutet dem Jhag überhaupt Freundschaft? Ohne Erinnerungen ist sie nur eine Illusion, eine Abmachung, die auf Vertrauen, und nur auf Vertrauen fußt. Wie um alles in der Welt kann daraus Icarium Großzügigkeit erwachsen?
Sie nahmen ihre Wanderung wieder auf, stiegen die ausgetretenen Steinstufen hinauf. Nach einer kurzen Pause, die – wie Fiedler überzeugt war – von hitzigem Geflüster unterbrochen wurde, verstummten die Bhok’arala und huschten wieder hinter ihnen her.
Als sie auf der Hauptebene ankamen, hörten Mappo und Fiedler das raue Echo einer schreienden Stimme, das vom Altarzimmer her, den Gang entlangschallte. Der Sappeur zog eine Grimasse. »Das kann nur Crokus sein.«
»Und ich nehme an, es ist kein Gebet.«
Sie fanden den jungen Dieb aus Darujhistan am Ende seiner Geduld vor. Er hatte Iskaral Pustl vorne an seiner Robe gepackt und drückte ihn gegen die staubige Wand hinter dem Altarstein. Pustls Füße baumelten zehn Zoll über den Bodenfliesen; er trat wild um sich. Ein Stück seitlich von den beiden stand Apsalar mit verschränkten Armen und beobachtete die Szene mit ausdruckslosem Gesicht.
Fiedler trat vor und legte dem jungen Burschen die Hand auf die Schulter. »Du erwürgst ihn, Crokus …«
»Er bekommt nur das, was er verdient, Fiedler!«
»Ich will mich darüber nicht mit dir streiten, aber – nur für den lall, dass du es noch nicht bemerkt haben solltest – es versammeln sich Schatten.«
»Er hat Recht«, mischte sich Apsalar ein. »Genau, wie ich es dir schon gesagt habe, Crokus. Du bist selbst dem Tor des Vermummten sehr nah.«
Der Daru zögerte; dann schleuderte er Pustl schnaubend von sich. Der Hohepriester schlitterte an der Wand entlang; er keuchte, dann richtete er sich auf und begann, seine Robe zurechtzuzupfen. Er sprach mit krächzender Stimme. »Die unbesonnene Jugend. Ich erinnere mich an mein eigenes melodramatisches Gehabe – damals, als ich noch im Hof von Tante Tulla herumgezottelt bin. Und die Hühnchen gepiesackt habe, wenn sie etwas an den Strohhüten auszusetzen hatten, die ich stundenlang geflochten hatte. Sie waren unfähig, das komplizierte Geflecht zu würdigen, das ich mir ausgedacht hatte. Ich war zutiefst gekränkt.« Er reckte den Kopf, grinste Crokus an. »Sie wird mit meinem neuen, verbesserten Strohhut sehr gut aussehen …«
Fiedler packte Crokus im Sprung und rang mit dem Burschen. Mit Mappos Hilfe hielt er ihn schließlich zurück, während der Hohepriester kichernd davonschlenderte.
Das Kichern verwandelte sich in einen Hustenanfall, der Pustl herumstolpern ließ, als wäre er plötzlich blind. Seine tastende Hand fand eine Mauer, und er sackte wie ein Betrunkener an ihr hinunter. Der Anfall endete mit einem letzten stoßweisen Husten, dann wischte er sich die Augen und blickte auf.
»Er will, dass Apsalar – «, knurrte Crokus.
»Wir wissen Bescheid«, sagte Fiedler. »Das haben wir auch rausbekommen, mein Junge. Die Sache ist nur die: Es ist ihre Sache – oder etwa nicht?«
Mappo sah ihn überrascht an. Der Sappeur zuckte die Schultern. Hat lange gedauert, aber irgendwann hab ich’s doch noch begriffen.
»Ich bin schon einmal von einem Aufgestiegenen benutzt worden«, sagte Apsalar. »Ich werde mich auf keinen Fall noch einmal freiwillig benutzen lassen.«
»Du sollst nicht benutzt werden«, zischte Iskaral Pustl. Gleichzeitig begann er, einen merkwürdigen Tanz aufzuführen. »Du wirst führen! Du wirst Befehle erteilen! Du wirst deinen Willen durchsetzen. Du diktierst die Bedingungen! Du hast die
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