Im Bann der Wüste
Vathar, wo das Basolithgrundgestein einmal mehr unter einer Kalksteinkruste versank und das Land, das sich vor und unter ihrem Aussichtspunkt südwärts erstreckte, aus nichts anderem bestand als verstreuten Steinen in einer windgepeitschten Ebene aus trockenem Lehm, stießen sie auf das erste Jaghut-Grab.
Nur wenige der Vorreiter und der Menschen an der Spitze der Marschkolonne achteten darauf. Es sah aus wie ein Steinhaufen, der als Landmarke diente – eine große, längliche Steinplatte, die am südlichen Ende nach oben ragte, als würde sie den Weg durch die Nenoth-Odhan nach Aren oder zu einem anderen, neueren Ziel weisen.
Korporal List hatte den Historiker schweigend hingeführt, während die anderen die Seile bereit machten, die dabei helfen sollten, die Wagen sicher den steilen, gewundenen Abstieg hinunter und auf den kahlen Boden der Ebene zu bringen.
»Der jüngste Sohn«, sagte List und starrte auf das primitive Grab hinunter. Sein Gesicht sah zum Fürchten aus, denn auf ihm zeigte sich die Trauer eines Vaters so unvermindert, als wäre das Kind erst gestern gestorben, doch es war ein Kummer, der – wenn überhaupt – mit dem quälenden, unergründlichen Verstreichen von dreihunderttausend Jahren noch gewachsen war.
Er steht noch immer Wache, dieser Jaghut-Geist. Diese stumme Feststellung, gleichermaßen einfach wie offensichtlich, verschlug dem Historiker trotzdem den Atem. Wie soll man so etwas begreifen …
»Wie alt war er?« Duikers Kehle war ebenso ausgetrocknet wie die Odhan, die vor ihnen lag.
»Fünf. Die T’lan Imass haben diesen Platz für ihn ausgesucht. Die Anstrengung, ihn zu töten, hätte sie zu viele Krieger gekostet, vor allem im Hinblick darauf, dass sie sich auch noch mit dem Rest der Familie auseinander setzen mussten. Also haben sie das Kind hierher geschleppt, seine Knochen zerschmettert – jeden einzelnen, so oft es bei einem so kleinen Körper ging – und ihn unter diesem Felsen festgeklemmt.«
Duiker hatte gedacht, dass er längst über Entsetzen oder Verzweiflung hinaus wäre, doch Lists tonlose Worte schnürten ihm die Kehle zu. Die Vorstellungskraft des Historikers war zu ausgeprägt für so etwas; in seinem Inneren entstanden Bilder, die ihn mit überwältigender Trauer erfüllten. Er zwang sich dazu, wegzusehen und stattdessen die Aktivitäten der Soldaten und Wickaner in dreißig Schritten Entfernung zu beobachten. Er bemerkte, dass sie größtenteils schweigend arbeiteten und nur so viel sprachen, wie es ihre Aufgaben erforderten – und auch dann nur in einem leisen, merkwürdig gedämpften Tonfall.
»Ja«, sagte List. »Die Gefühle des Vaters bilden eine dunkle Wolke, die all die Zeit, die verstrichen ist, nicht vertreiben konnte. Diese Gefühle sind so gewaltig, so herzzerreißend, dass selbst die Erdgeister fliehen mussten. Sonst wäre der Wahnsinn über sie gekommen. Coltaine sollte benachrichtigt werden – wir müssen dieses Land schnell durchqueren.«
»Und wie ist es weiter voraus? In der Nenoth-Odhan?«
»Dort wird es noch schlimmer. Die T’lan Imass haben nicht nur die Kinder lebendig – noch atmend und bei vollem Bewusstsein – unter den Felsen begraben.«
»Aber warum?« Duiker brachte die Frage kaum heraus.
»Pogrome brauchen keinen Grund, Herr. Nicht wirklich. Die Unterschiede in der Art sind die erste und tatsächlich auch die einzige Erkenntnis, die man braucht. Land, Vorherrschaft, überraschende Attacken, um dem Gegner zuvorzukommen – das sind alles nur Entschuldigungen, weltliche Rechtfertigungen, die die entscheidende Tatsache verschleiern sollen: Sie sind nicht wie wir. Wir sind nicht wie sie.«
»Haben die Jaghut versucht, vernünftig mit ihnen zu reden, Korporal?«
»Viele Male, zumindest jene, die nicht durch und durch von der Macht korrumpiert waren – die Tyrannen –, aber Ihr müsst verstehen, dass die Jaghut immer arrogant waren, und außerdem waren sie eine Rasse, mit der nicht leicht umzugehen war. Einem oder einer Jaghut hat nur er oder sie selbst etwas bedeutet. Und zwar fast ausschließlich. Für sie waren die T’lan Imass nichts anderes als die Ameisen unter ihren Füßen, oder die Herden im Grasland, oder sogar das Gras selbst. Überall zu finden, ein Teil der Landschaft. Ein mächtiges, aufstrebendes Volk, wie es die T’lan Imass waren, konnte gar nicht anders – sie mussten sich gekränkt fühlen …«
»So sehr, dass sie einen unsterblichen Eid geschworen haben?«
»Ich glaube, die T’lan Imass haben
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