Im Bann des Kindes
sie gleich erkannte - und von dem sie gehofft hatte, ihn nie mehr wiederzusehen.
Raphael Baldacci.
*
Der Gesandte stand nahe der Tür. Als brächte er es nicht fertig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er konnte noch immer kaum glauben, was er sah.
Ein rundes Dutzend stinkender Gestalten, gekleidet in Lumpen, denen anzusehen war, daß sie nicht dieser Zeit entstammten. Die Kreaturen glotzten ihm aus toten Augen entgegen, streckten die Klauen nach ihm aus und wagten doch nicht, näherzukommen.
Doch ihnen galt nur der allererste Blick Baldaccis und nur ein kleiner Teil seiner Aufmerksamkeit.
Ein anderes Bild schlug ihn in seinen Bann. Keines von denen an den Wänden ringsum, sondern das Bett. Und was darauf geschah.
Lilith Eden lag darauf, in einem zerfetzten, hautengen Catsuit. Und über ihr hockte - - ein Kind!
Ein Junge von allerhöchstens sieben Jahren kniete auf dem Bauch der Vampirin!
Raphael Baldacci stieß einen Laut aus, den er selbst nicht zu deuten vermochte. Er war Ausdruck von Überraschung, Entsetzen, Grauen - und mehr.
Das Kind ließ von Lilith ab, und für einen flüchtigen Moment - gerade so lange, wie der Nachhall seiner eigenen Stimme und dessen, was er unbewußt hineingelegt hatte, noch im Raum schwang - sah Raphael mehr als das Kind. Eine andere Gestalt schob sich darüber wie in einer Doppelbelichtung. Sie war größer, kräftiger, nackt -und sie trug einen gehörnten Tierschädel auf den fellbewachsenen Schultern.
Doch der Eindruck schwand so rasch, wie er gekommen war.
Hinter dem Kind richtete sich Lilith Eden auf. Und sie wirkte auf den Gesandten, als läge etwas gänzlich anderes hinter ihr als der Schmerz, den sie empfunden haben mußte, als der Knabe ihr seine Knie in den Bauch rammte und dabei auf und nieder ruckte. Sie sah erschöpft aus, todmüde beinahe, und seltsam ausgezehrt. Als hätte etwas von ihren Kräften gezehrt.
»Was geht hier vor?« verlangte Baldacci mit harter Stimme zu wissen, obgleich er noch immer Mühe hatte, das Konglomerat unterschiedlichster Gefühle, das in ihm tobte, niederzuzwingen. »Was hast du mit diesem Kind zu schaffen, Vampir, und was sind das für grauenhafte Kreaturen?«
»Kind?« Lilith glitt vom Bett und machte einen Bogen um den Widderköpfigen herum, der starr verharrte und seinen Blick nicht von Baldacci wandte.
Der Gesandte wies mit dem Kinn in Richtung des Jungen. »Ist es nicht schlimm genug, daß deine Art Leid über die Welt bringt? Müßt ihr euch selbst an Kindern vergreifen?«
Er spürte etwas in sich emporsteigen, eine Ahnung des Hasses und der Kraft, die ihn schon übernommen hatten, als er Lilith letz-tesmal gegenübergestanden hatte. Und noch immer wußte er nicht, wo sie herrührten. Sie waren einfach da, und Liliths Gegenwart schien sie zu nähren, war wie Öl in die Flammen eines fast erloschenen Feuers.
Eines lange niedergebrannten Feuers .
Etwas drängte sich zwischen Haß und Macht, eine Erinnerung. Doch was sie trieb, war nicht stark genug, um länger als einen Augenblick zu bestehen. Zu kurz, um zu erkennen, was sie in sich barg »Ich verstehe nicht ...«, flüsterte Lilith, und die Verwirrung in ihren Worten war zweifelsohne echt.
»Ich glaube, daß tust du wirklich nicht«, erwiderte Raphael. In ihm stritten seltsam widersprüchliche Kräfte miteinander. Da war jene, die ihn dazu treiben wollte, sich auf die Vampirin zu stürzen; und eine gänzlich andere, eine Kraft, die ihn wärmte, ja, verbrennen wollte. Doch es war ein süßer Schmerz, der damit einherging, und Raphael genoß ihn, weil jedes Pochen dieses Schmerzes in an jene eine Nacht erinnerte, die er mit Lilith im Feuer der Leidenschaft verbracht hatte .
Sie stand jetzt neben ihm, und wie er sah sie zu dem anderen hin, der in ihren Augen nach wie vor groß war und einen Widderschädel auf den Schultern trug. Aber Baldaccis Worte hatten etwas in ihr berührt .
Was hast du mit diesem Kind zu schaffen ...
Lilith entsann sich ihrer Träume, in denen der Widderköpfige aufgetaucht war. Und daran, daß sie etwas im Blick seiner Augen gesehen zu haben glaubte. Etwas wie - - die Unschuld eines Kindes?
Was geschah hier? Was geschah mit ihnen?
»Was siehst du?« fragte Lilith kurzerhand.
Baldacci sah sie erstaunt an.
»Was ich sehe? Nichts anderes als du«, sagte er.
»Das glaube ich eben nicht.« Sie schaute sich kurz suchend um und wies dann auf jenes Gemälde an der Wand, das nur die Aussicht in einen leeren Himmel zeigte.
»Erinnerst du dich an
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