Im Bann des Mondes
hier.«
Als erneut ein Krachen ertönte, erstarrte er. Mit festem Griff führte er sie zu ihrem Sessel zurück und setzte sie hin, als wäre sie ein Kind. »Und jetzt werde ich mich um dieses hier kümmern.«
36
In einem so langen Leben, wie Ian es bereits hinter sich gebracht hatte, lernte man, für kleine Dinge dankbar zu sein. Deshalb war er in höchstem Maße froh darüber, dass die Queen darauf verzichtet hatte, im Buckingham Palace zu leben. In den Besitz eines Monarchen einzudringen, war schon verwerflich genug, ohne dass man sich Sorgen machen musste, der Königin höchstpersönlich über den Weg zu laufen. Da die Monarchin zurzeit nicht hier residierte und es auch schon länger nicht getan hatte, hatte man nur wenige Sicherheitskräfte vor Ort belassen. Zwei Wachen waren auf dem Gelände postiert, gelangweilte Männer, die Brag spielten, während eine Flasche Gin zwischen ihnen hin und her ging. Im Moment schliefen sie aufgrund des Laudanums, das Mary Chase ihnen heimlich in den Gin gegeben hatte. Mit lautlosen Schritten ging Ian durch die kalten, dunklen Korridore im oberen Stock. Es roch muffig, überall waren Spinnweben und Staub. Das herrliche Gebäude befand sich in einem traurigen Zustand.
Er war nicht mit leeren Händen gekommen. Bewaffnet mit zwei silbernen Jagdmessern und einem Blasrohr wollte Ian den Werwolf auf Menschenart zur Strecke bringen, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen.
Ein Stück weit vor ihm schwebte Mary Chase’ Schemen perlweiß und durchsichtig. Sie hatte ihre Gestalt beibehalten und konnte sich den Anschein geben, als würde sie gehen, wenn sie darauf Lust hatte. Aber häufig war es für einen GIM einfacher und schneller nur zu schweben.
Je länger sie durch den riesigen Palast streiften, desto aufgeregter wurde er. Nirgends regte sich eine Seele, und es gab auch keine Anzeichen, dass hier je ein Werwolf untergebracht gewesen war. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Ian ging schneller und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer schmerzte. Als sie wieder am Ausgangspunkt angekommen waren, marschierte er auf Mary Chase’ geisterhafte Gestalt zu.
»Hier ist nichts!«, zischte er. »Rein gar nichts.«
Sie runzelte die Stirn, und die Röcke ihres unsichtbaren Gewands wehten in einer Schattenbrise. »Wir sind zu spät.«
Ian hieb mit der Faust gegen die Wand. Es war ihm egal, dass er dabei den Damast zerriss, mit dem sie bespannt war. »Hier ist nie ein Werwolf gewesen.« Er schlug wieder gegen die Wand, und die Bilderrahmen klapperten.
»Sire …«
»Nennen Sie mich nicht so!« Ian fuhr sich mit der Hand durchs Haar und spürte die Spitzen seiner Krallen. Warum hatte man ihn hergelockt? Um ihn von Daisy wegzuholen? Ian erstarrte, als ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, doch dann beruhigte er sich wieder. Talent würde auf Daisy aufpassen.
Trotzdem wollte Ian auf einmal sofort wieder nach Hause. »Man hat uns eine Falle gestellt, und wir sind geradewegs hineingetappt.«
Marys schemenhafte Gestalt, die neben ihm schwebte, runzelte die Stirn und riss dann plötzlich vor Schreck die Augen weit auf. Mit leiser, geisterhafter Stimme wisperte sie »Nein« und verschwand.
Instinktiv streckte Ian die Hand nach ihr aus, um sie zurückzuhalten, da ertönte Conalls Stimme jenseits der Palastmauern. »He, da, Bruder. Ich hab’ dein Püppchen hier am Haken. Komm raus und sei lieb, ja? Oder soll ich ein bisschen mit ihr spielen?«
Ians Blut fing vor Wut an zu brodeln, während er mit den Zähnen knirschte.
»Beeil dich«, rief Conall. »Das wird Spaß machen.«
Conall, Lyall und sechs Männer der Garde standen im Halbkreis auf dem Rasen der Königin. Der fahle Mondschein betonte die Gesichtszüge seines Bruders und ließ sie schmaler erscheinen. Ansonsten hatte er das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Da wusste Ian, dass heute Nacht ein Teil von ihm zusammen mit Conall sterben würde.
Mary Chase stand ruhig und regungslos da, als würde Conalls große Hand nicht um ihren Hals liegen und leicht zudrücken.
»Lass sie los.« Ian legte seine Waffen ab. »Sie hat nichts mit dem zu tun, was zwischen uns abläuft.«
»Deine kleine Kundschafterin?« Conall schüttelte Mary nicht eben sanft. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, aber sie rührte sich nicht. »Jetzt schließen wir also Abkommen mit den Lakaien des Teufels, was?« Mit einem höhnischen Grinsen stieß er sie weg, und sie stürzte zu Boden. »Verschwinde«, sagte er zu Mary,
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