Im Bann des Mondes
Geruch vergleichen. Er warf Archer einen Blick zu. Der andere zog die Augenbrauen leicht zusammen. Ian presste die Lippen aufeinander. Er wusste nicht, wie er darauf beharren sollte, ohne dass es seltsam aussah. Und darüber hinaus war eh zu befürchten, dass die schwächeren Gerüche durch die stark fortgeschrittene Verwesung überdeckt wurden. Ian würde seine Nase förmlich in dem Leib vergraben müssen. Eine Vorstellung, gegen die sich sein Wolf und sein Magen energisch auflehnten. Leider erkannte er an Archers Miene, dass diesem auch nichts Glorreiches einfallen wollte.
Während er immer wütendern wurde, kam Ian plötzlich ein Gedanke. »Haben Sie ihre Kleidung noch, Poole?«
Poole sah ihn erstaunt an, ging dann aber gleich zu einem Schrank. »Natürlich.«
Unter dem wachsamen Blick von Lane nahm Ian das Bündel zerfetzter Kleidung entgegen. Archer trat wieder neben die Leiche von Alexis Trent. »Wenn Sie so gut wären, Poole, aber ich habe eine Frage zu den Verletzungen, die am Omentum erkennbar sind.«
Lanes verwirrter Blick ließ Ian lächeln. »Immer dieses hochtrabende Gerede von Medizinern. Mit
Omentum
meinen sie diese fettig aussehende Schicht vor ihren Gedärmen. Sie wissen schon … diese unebene, gelbgraue Masse, die davor herunterhängt.« Sein Grinsen wurde breiter, als Lanes Gesichtsfarbe eindeutig ins Grüne wechselte. »Wenn Sie das Gefühl haben, dem nicht gewachsen zu sein, können Sie bei mir bleiben. Ich würde Ihnen bestimmt keinen Vorwurf daraus machen.«
Der Mann sah ihn wütend an, trat dann aber auf wackeligen Beinen neben Archer, während sich die beiden Fachleute in epischer Breite über die verschiedenen Möglichkeiten des Ausräumens der Bauchhöhle austauschten. Ian schüttelte den Kopf und lächelte weiter. Man schaffte es doch immer wieder, einen Mann zu etwas zu bringen, was er eigentlich nicht hatte tun wollen, wenn man seinen Mut in Frage stellte.
Ians Lächeln verschwand, als er das Kleid untersuchte, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Es war jetzt nur noch ein Fetzen, aber früher wahrscheinlich ziemlich ansehnlich gewesen. Ein schlichtes Baumwollkleid mit weitem Rock und einem etwas aus der Mode gekommenem Mieder. Ein Kleid, das Frauen der Mittelschicht oder Unterschicht tragen würden. Darüber hinaus war es förmlich getränkt mit dem gleichen Parfüm, das auch das andere Opfer benutzt hatte – und die sinnliche Daisy Craigmore. Er brauchte noch nicht einmal tief einzuatmen. Trotz Schmutz und getrocknetem Blut, die den Stoff wie eine Kruste bedeckten, war der Duft deutlich wahrzunehmen. Plötzlich erfasste ihn Furcht. Der Werwolf suchte sich seine Opfer nicht zufällig. Er wurde von dem Parfüm angezogen. Daisys Parfüm.
5
Es fiel Ian überhaupt nicht schwer, sie auf den belebten Straßen nicht aus den Augen zu verlieren und ihr zu folgen. Durch die Trauerkleidung verschmolz sie zwar mit dem Meer aus Kammgarnkleidung der arbeitenden Klasse, doch die Witwe Daisy Craigmore fiel trotzdem auf. Sie ging mit ruhiger, gleichmäßiger Geschwindigkeit, wie es sich für eine Dame gehörte, doch ihr wiegender Gang strahlte pure Sinnlichkeit aus. Die üppige Turnüre betonte das nur, sodass mehr als nur ein männlicher Blick an ihr hängen blieb, wenn sie vorüberging. Doch sie beachtete die Männer gar nicht. Ihr Körper hielt sich kerzengerade unter dem schwarzen Taft, und Ian fragte sich, ob sie an jenen Abend dachte, als der Tod schon seine Hand nach ihr ausgestreckt hatte.
Dass Daisy sich entschieden hatte, nach der Beerdigung von Alex Trent zu Fuß zu gehen, fand er nicht seltsam. Er hatte Verständnis für das Bedürfnis, einen klaren Kopf zu bekommen. Allerdings war er davon ausgegangen, dass sie sich eine hübsche Parkanlage zum Spazierengehen aussuchen würde. Doch stattdessen entfernte sie sich immer weiter vom sicheren Mayfair. Sie befanden sich jetzt in einer Gegend, in der die arbeitende Bevölkerung lebte, die jedoch nicht arm genug war, um gefährlich zu sein. Hier lebten einfache Menschen, arbeiteten und spielten. Ian fiel auf wie ein glänzender Kupferkessel zwischen angelaufenen Töpfen.
Ohne langsamer zu werden, nahm er die Krawattennadel mit dem Rubin ab und steckte sie zusammen mit der goldenen Uhr in seine Tasche. Er hatte keine Angst bestohlen zu werden. Der arme Mensch, der das versuchte, war zu bedauern. Er wollte einfach nur nicht so sehr auffallen. Durch den Schnitt seines Anzugs und den gediegenen Stoff tat er das schon genug.
An einer
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