Im Bann des Mondes
Ecke stand ein Zeitungsjunge, der mit heller Stimme laut brüllte und die neuste Ausgabe über dem Kopf schwenkte. »Wahnsinniger Mörder fällt über die Einwohner Londons her! Die Leber der Opfer verspeist er zum Abendbrot!«
Daisy geriet kurz ins Straucheln, sodass Ian am liebsten zu ihr geeilt wäre, um sie zu stützen. Er brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es aschfahl war.
»Wann wird er wieder zuschlagen?«, brüllte der Zeitungsjunge. »Wer von uns ist noch sicher? Lesen Sie alles, was darüber in der Zeitung steht!«
Daisy ging an dem Jungen vorbei, ohne einen Blick auf ihn zu werfen. Mit der Ungezwungenheit eines Gastes, der häufig einkehrt, schritt sie auf das
Plough and Harrow
zu und betrat das Gasthaus. Er ließ ihr einen Moment Zeit, ehe er ihr folgte.
Im Schankraum war es recht dunkel, und es roch nach Ale, Männern und gebratenem Fleisch. Mittagsgäste riefen ihre Bestellungen, lachten und unterhielten sich. Es herrschte eine einladende Atmosphäre, an der man gern teilhaben wollte.
Ian zog die Krempe seines Huts in die Stirn und beobachtete, wo Daisy hinging, während er sich in einer dunklen Ecke am Tresen niederließ. Sie war direkt auf einen alten Mann zugelaufen, einen Hünen in schlichter Kleidung mit einer fleckigen Schürze. Er hob freudig überrascht die buschigen Brauen und schloss sie warmherzig in die Arme.
»Meggy, Kleines! Welch schöner Anblick für meine trüben Augen!« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Was hast du in letzter Zeit so gemacht, meine Süße?«
Ihr Lachen brachte den Raum zum Strahlen. »Ach, ein bisschen dies und ein bisschen das, Clemens.« Sie löste sich von dem alten Mann und legte ihre Hand in seine Armbeuge. »Hast du einen Platz für mich, auf dem eine alte Freundin sich mit ihren müden Knochen ausruhen kann?«
»Das musst du doch nicht fragen!«
Clemens führte Daisy zu einem Tisch im hinteren Bereich am Fenster, wo ein Mann vor seinem Ale saß. »Der beste Tisch im Haus für meine Meg.«
Ohne viel Federlesen nahm Clemens den Zecher am Schlafittchen und zog ihn hoch. »Fort mit dir, Tibbs. Stell dich an den Tresen, wenn du noch bleiben willst. Miss Meggy braucht den Tisch.«
Tibbs brummelte irgendetwas Unverständliches, während er sich zum Tresen wandte.
Dass Miss Meggy gegen Tibbs’ schlechte Behandlung protestierte, wurde ignoriert.
»Er würde Tag und Nacht hier verbringen, wenn ich ihn ließe«, sagte Clemens, während er alles vom Tisch wischte, was noch an den unseligen Tibbs erinnert hätte. Dann schob er Daisy den Stuhl zurecht, wie es kein Lakai vom Belgravia Square hätte formvollendeter tun können.
»Möchtest du dein Lieblingsgericht zum Mittagessen haben, Kleines?«
Daisy nahm ihre schwarze Haube ab und enthüllte ihr Haar, das wie Gold und silberne Mondstrahlen schimmerte. Es war mit einem züchtigen Mittelscheitel frisiert, die wilden Locken waren am Hinterkopf zusammengefasst. »Ja, Clemens, danke.«
Ian wartete, bis Clemens gegangen war, ehe er zum Schlag ansetzte. Im dunklen Raum war er kaum auszumachen, und er bewegte sich leichtfüßig zwischen den anderen Gästen. Mit anderen Worten: Eigentlich hätte sie ihn gar nicht bemerken dürfen, doch in dem Moment, als er sich vom Tresen löste, hob sie den Kopf und durchbohrte ihn mit ihren himmelblauen Augen.
Er verlangsamte seinen Schritt zu einem lässigen Schlendern und sah, wie sie sein Näherkommen beobachtete. Sofort schoss ein heißer Strahl in seine Lenden, und vor freudiger Erregung, dass ihr Blick auf ihm ruhte, zog sich bei ihm alles zusammen.
»Daisy.« Er blieb vor ihr stehen, zog den Hut und verbeugte sich. »Was für eine angenehme Überraschung.«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ einen Arm über die Rückenlehne baumeln. Die Haltung war entspannt und träge und kein bisschen damenhaft. Dem Himmel sei Dank für den Gehrock, denn sonst hätte sie gesehen, welche Wirkung sie auf ihn hatte. »Ja, das ist wirklich eine Überraschung, Lord Northrup. Keiner würde je erwarten, Sie in solch einem Wirtshaus zu sehen. Das muss doch völlig unter Ihrer Würde sein.«
Er wartete nicht darauf, dass sie ihm anbot, Platz zu nehmen, denn er ging davon aus, dass er dann lange würde stehen müssen. »Ich scheine mich genauso gern unters gemeine Volk zu mischen wie Sie.« Er musste seine Beine unter dem Tisch ausstrecken, denn sonst wäre er mit den Knien von unten gegen die Tischplatte gestoßen. »Naja, vielleicht nicht ganz so
Weitere Kostenlose Bücher